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Stadt St.Gallen
21.01.2023
10.04.2023 19:28 Uhr

Arthur Schopenhauer als Menschenfreund: Über Kinder, Fabrikarbeiter und Sklaven

Ernst Ziegler
Ernst Ziegler Bild: stz.
Der ehemalige St.Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler beschäftigt sich nicht erst seit seiner Pensionierung mit Arthur Schopenhauer. Den stgallen24.ch-Lesern stellt Ziegler den grossen deutschen Philosophen als Menschenfreund vor. Heute: Über Kinder, Fabrikarbeiter und Sklaven.

Arthur Schopenhauer beklagte immer wieder „den Jammer und das Elend des Daseyns“.[i] Als Beispiel von „Jammer, Noth und Tod“, welche die Menschen „ohne Maaß und Ziel“ erdulden müssen, erwähnt er die Kinderarbeit: „Im Alter von fünf Jahren eintreten in die Garnspinnerei, oder sonstige Fabrik, und von Dem an erst 10, dann 12, endlich 14 Stunden täglich darin sitzen und die selbe mechanische Arbeit verrichten, heißt das Vergnügen, Athem zu holen, theuer erkaufen. Dies aber ist das Schicksal von Millionen, und viele andere Millionen haben ein analoges.“[ii]

Zu den Fabrikarbeitern zählte Schopenhauer die Weber, die „unter Hunger und Kummer in dumpfigen Kammern oder trostlosen Fabriksälen schwach zu vegetiren“ vermögen.[iii]

Als Unrecht bezeichnete er Kannibalismus, Mord, Verstümmelung, Verletzung des fremden Leibes und Angriff des fremden Eigentums sowie „Unterjochung des andern Individuums, im Zwange desselben zur Sklaverei“.[iv]

Die Sklaverei hat den Philosophen stark beschäftigt und bedrückt, und er schrieb, wie der Mensch mit dem Menschen verfahre, zeige zum Beispiel "die Negersklaverei".[v]

Er zitierte aus Thomas Fowell Buxtons Werk The African slavetrade, London 1839, und in seiner Bibliothek stand ein umfangreiches Werk mit dem Titel American Anti-Slavery Committee, Slavery and the International Slave Trade in the United States of America, London 1841.[vi]

Dazu schrieb er: „Dieses Buch macht eine der schwersten Anklageakten gegen die Menschheit aus. Keiner wird es ohne Entsetzen, Wenige ohne Thränen aus der Hand legen. Denn was der Leser desselben jemals vom unglücklichen Zustande der Sklaven, ja, von menschlicher Härte und Grausamkeit überhaupt, gehört, oder sich gedacht, oder geträumt haben mag, wird ihm geringfügig erscheinen, wenn er liest, wie jene Teufel in Menschengestalt, jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden Schurken, namentlich auch die Anglikanischen Pfaffen unter ihnen, ihre unschuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt in ihre Teufelsklauen gerathen sind. Dies Buch, welches aus trockenen, aber authentischen und dokumentirten Berichten besteht, empört alles Menschengefühl in dem Grade, daß man, mit demselben in der Hand, einen Kreuzzug predigen könnte, zur Unterjochung und Züchtigung der sklavenhaltenden Staaten Nordamerika's. Denn sie sind ein Schandfleck der ganzen Menschheit.“[vii]

In Kapitel XV „Über Religion“ steht in den Parerga und Paralipomena: „Religionskriege, Religionsmetzeleien, Kreuzzüge, Inquisition, nebst andern Ketzergerichten, Ausrottung der Urbevölkerung Amerika's und Einführung Afrikanischer Sklaven an ihre Stelle, — waren Früchte des Christenthums, und nichts ihnen Analoges, oder die Waage Haltendes, ist bei den Alten zu finden: denn die Sklaven der Alten, die familia, die vernae, ein zufriedenes, dem Herrn treu ergebenes Geschlecht, sind von den unglücksäligen, die Menschheit anklagenden Negern der Zuckerplantagen so weit verschieden, wie ihre beiderseitigen Farben.“[viii]

In der Preisschrift über die Grundlage der Moral erwähnt Schopenhauer dann noch einmal unter den Grausamkeiten des Christentums die „Ausrottung eines großen Theils der Ureinwohner Amerikas und Bevölkerung dieses Welttheils mit aus Afrika herangeschleppten, ohne Recht, ohne einen Schein des Rechts, ihren Familien, ihrem Vaterlande, ihrem Welttheil entrissenen und zu endloser Zuchthausarbeit verdammten Negersklaven“.[ix]

Und er fügte hinzu: „Jene Teufel in Menschengestalt, die Sklavenhalter und Sklavenhändler in den Nordamerikanischen Freistaaten (sollte heißen Sklavereistaaten) sind in der Regel orthodoxe und fromme Anglikaner, die es für schwere Sünde halten würden, am Sonntag zu arbeiten, und im Vertrauen hierauf und auf ihren pünktlichen Kirchenbesuch u.s.w. ihre ewige Seeligkeit hoffen.“[x] „Jammer, Noth und Tod, ohne Maaß und Ziel zu erdulden“ haben die sechs Millionen Negersklaven, die „täglich, im Durchschnitt, 60 Millionen Peitschenhiebe auf bloßem Leibe“ zu erleiden hätten.[xi]

Als Triebfeder für die Befreiung der Sklaven nannte Schopenhauer das Mitleid. Ob dieses eine Rolle spielte, als 1841 in London der sogenannte „Quintupelvertrag“ unterzeichnet wurde, wissen wir nicht.[xii] Sicher ist, dass der Philosoph in diesem Zusammenhang schrieb, wenn er sich mit einem Andern gewissermassen identifiziert habe und folglich die Schranke zwischen Ich und Nicht-Ich, für den Augenblick, aufgehoben sei, dann werde „die Angelegenheit des Andern, sein Bedürfniß, seine Noth, sein Leiden, unmittelbar zum meinigen: dann erblicke ich ihn nicht mehr, wie ihn doch die empirische Anschauung giebt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern in ihm leide ich mit“.[xiii]

Diesen Vorgang nannte er „mysteriös“. „Er tritt im Großen ein, wenn, nach langer Ueberlegung und schwerer Debatte, die hochherzige Brittische Nation 20 Millionen Pfund Sterling hingiebt, um den Negersklaven in ihren Kolonien die Freiheit zu erkaufen; unter dem Beifallsjubel einer ganzen Welt. Wer diese schöne Handlung im großen Stil, dem Mitleid als Triebfeder absprechen wollte, um sie dem Christenthum zuzuschreiben, bedenke, daß im ganzen Neuen Testament kein Wort gegen die Sklaverei gesagt ist; so allgemein auch damals die Sache war; und daß vielmehr, noch 1860, in Nord-Amerika, bei Debatten über die Sklaverei, Einer sich darauf berufen hat, daß Abraham und Jakob auch Sklaven gehalten haben.“[xiv]

[i] Spicilegia, S. 417, 384. D, 5, S. 107, 325. D, 5, S. 317-331: Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt.
[ii] D, 5, S. 107. D, 2, S. 661. Vgl. Lichtenbergs Briefe, Ihre Hand, Ihren Mund, nächstens mehr, 1765 bis 1799, Hg. von Ulrich Joost, München 1998, S. 117-128: Brief an Johann Andreas Schernhagen, Kew, den 16. Oktober 1775: „Ich führe nur an daß ich HE. Bolton's berühmte Manufacktur oder gantzes System von Manufackturen zu Soho in Staffordshire bey Birmingham gesehen habe, wo täglich 700 Menschen Knöpfe, Uhrketten, Stahlschnallen, Degengefäße, Etuis, alle Arten von Silberarbeiten, Uhren, alle nur ersinnlichen Zierrathen, aus Silber, Tomback und anderen Compositionen, Dosen pp machen. Jeder Arbeiter hat da nur ein gantz kleines Feld vor sich, daß er also gar nicht nöthig hat Stellung und Werckzeuge zu verändern, wodurch eine unglaubliche Menge Zeit gewonnen wird. […] Aus allem diesem erhellt, warum man die sogenannten Birminghamer Waaren in Berlin und Straßburg wohlfeiler kauft als in London selbst.“ Matthew Boulton, 1728-1809, Maschinenbaumeister, Fabrikant.
[iii] D, 5, S. 107. Spicilegia, S. 382.
[iv] D, 1, S. 395-396.
[v] D, 2, S. 661. D, 5, S. 268.
[vi] D, 3, S. 704. D, 5, S. 232; HN V, S. 361. Philosophari, S. 107: „Ein amerikanisches Werk On slave life in the southern states of America: (Vereinigte Staaten) hat schon 20 Auflagen erlebt: — herzzerreißende Geschichten.“ H V, S. 361.
[vii] D, 5, S. 232.
[viii] D, 5, S. 379. Pandectae, S. 244-245.
[ix] D, 3, S. 704: „Noch jetzt wird, nach (Thomas Fowell) Buxton, The African slavetrade, (London) 1839, ihre Zahl jährlich durch ungefähr 150 000 frische Afrikaner vermehrt, bei deren Einfangung und Reise über 200 000 andere jämmerlich umkommen.“
[x] D, 5, S. 385.
[xi] D, 5, S. 107. Vgl. Flaig, Egon: Weltgeschichte der Sklaverei, München 2009 (becksche reihe), S. 185: Um 1860 lebten in Nordamerika fast vier Millionen Sklaven.
[xii] Vertrag von London vom 20. Dezember 1841 zur Unterdrückung des afrikanischen Sklaven-handels.
[xiii] D, 3, S. 699.
[xiv] Flaig: Weltgeschichte der Sklaverei, S. 206-210. D, 3, S. 700.

Die weiteren Teile der Serie «Arthur Schopenhauer als Menschenfreund» finden Sie in unserem Schopenhauer-Dossier.

Zum Autor

Ernst Ziegler (Jg. 1938) war bis 2003 Stadtarchivar in St. Gallen. Er ist Privatdozent an der Universität St. Gallen, Historiker und Paläograph. Bei C.H. Beck in München hat er drei Bände von Schopenhauers Handschriftlichem Nachlass herausgegeben, die Senilia, die Specilegia und die Pandectae sowie die Schopenhauer-Textsammlungen Die Kunst, sich Respekt zu verschaffen, Die Kunst am Leben zu bleiben und Über den Tod. Im Schwabe Verlag zu Basel erschien 2015 die Anthologie Burckhardt und Schopenhauer. Bei Königshausen & Neumann in Würzburg erschienen 2017 die beiden Bände Cogitata und Cholerabuch, 2018 Et in Arcadia ego — Arthur Schopenhauer in Italien und 2019 die Philosophari. Im Oktober 2019 begann er Schopenhauer e la vispa Teresa (L`Italia, le donne, le avventure) von Anacleto Verecchia (2006) ins Deutsche zu übertragen. In der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“ sind erschienen Magie und Hexerei bei Arthur Schopenhauer, Schopenhauer und Spinoza, Arthur Schopenhauer und Giordano Bruno sowie Arthur Schopenhauer und Dante Alighieri.

Ernst Ziegler
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