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Stadt St.Gallen
14.01.2023
10.04.2023 19:28 Uhr

Arthur Schopenhauer als Menschenfreund: Der Luxus als Ursache von Proletariat und Sklaverei

Ernst Ziegler
Ernst Ziegler Bild: stz.
Der ehemalige St.Galler Stadtarchivar Ernst Ziegler beschäftigt sich nicht erst seit seiner Pensionierung mit Arthur Schopenhauer. Den stgallen24.ch-Lesern stellt Ziegler den grossen deutschen Philosophen als Menschenfreund vor. Heute: Der Luxus als Ursache von Proletariat und Sklaverei.

In den Spicilegia findet sich 1838 folgendes „Räsonnement“ Schopenhauers: „Armuth und Sklaverei sind zwei Formen derselben Sache deren Wesen darin besteht, daß die eigenen Kräfte des Menschen nicht für ihn selbst, sondern für Andere verwendet werden, wovon die Folge ist Ueberladung mit Arbeit und kargliche Befriedigung der natürlichen Bedürfnisse; während die Natur Jedem so viel Kräfte gab, daß er durch mäßige Anwendung derselben seine Existenz der Erde abgewinnen kann.

Aber großer Ueberschuß von Kräften hat er nicht erhalten; nimmt man daher die gemeinsame Last einem beträchtlichen Theil der Menschheit ab, um dem Andern desto mehr aufzulegen; so ist dieser übermäßig belastet und elend. Und zwar lastet dieses Uebel jederzeit auf der Mehrzahl der Menschheit: stets bestand diese aus Sklaven oder Armen.

Die Quelle oder letzte Ursach dieses Uebels ist allein der Luxus: damit einige Wenige das Entbehrliche, Ueberflüssige und Raffinirte haben können, muß ein großes Maaß Menschenkräfte auf dieses verwendet und daher dem Nothwendigen, der Hervorbringung des Unentbehrlichen, entzogen werden. Statt Hütten für sich, bauen Tausende Palläste, Schlösser und Hotels für einige Wenige: statt grober Stoffe für sich und die ihrigen, weben sie feine Stoffe für die Reichen und verfertigen überhaupt die 1‘000 Gegenstände des Luxus, die der Reiche verlangt.

Aus solchen Luxusarbeitern besteht die Hauptbevölkerung der Städte: der Bauer muß nun für diese und die Reichen mit pflügen und säen, hat also mehr Arbeit als die Natur der Sache heischt. Aber auch er noch muß, statt auf Korn und Kartoffeln, vieles Land und viele Kraft auf Wein, Seidenbau, Tabak, Spargel u.s.w. verwenden. Eine Menge Menschen werden dem Ackerbau entzogen, um dem Schiffbau und der Seefahrt zu dienen, damit Zucker, Kaffee, Thee herbeigeschafft werde.

Die Produktion dieser ist die Ursache des Elends der Tausenden von Negersklaven, die in ihrem Vaterlande eingefangen wurden, damit ihr Schweiß und ihre Marter jene Genüße hervorbringe. Kurz, ein großer Theil der Kräfte des Menschengeschlechts wird dem für Alle Nothwendigen entzogen, um das ganz Ueberflüssige und Entbehrliche für einige Wenige zu schaffen. So lange daher auf der einen Seite der Luxus besteht, muß nothwendig auf der andern harte Arbeit und schlechtes Leben bestehn, sei es unter dem Namen der Armuth oder der Sklaverei, der proletarii oder der Servi. Sklaven werden es ursprünglich durch Gewalt; Arme durch List.

Der ganze unnatürliche Zustand der Gesellschaft, der allgemeine Kampf, um dem Elend zu entgehn, die so viel Leben kostende Seefahrt, das komplicirte Handelsinteresse, und die Kriege die endlich durch alles das herbeigeführt werden, — Alles das hat zur alleinigen Wurzel den Luxus; der nicht ein Mal die, welche ihn genießen, glücklich macht, sondern kränklich und übelgelaunt. Strenge Luxus-Gesetze in allen Ländern, wären das alleinige Erlösungsmittel von so großen und allgemeinen Uebeln.“[i]

Diesen Gedankengang relativierte der Philosoph dann allerdings, indem er zwischen Muskelkräften und Geisteskräften einen Unterschied machte und schrieb, „müßige Hände geben thätige Köpfe“. Dazu zitierte er einen Vers nach Euripides (um 485-406 v. Chr.): „Ein guter Ratschlag stiftet größren Nutzen oft, als viele Hände.“[ii]

Der Wissenschaft, nach Schopenhauer selbst ein Kind des Luxus, verdanken wir nämlich die Vervollkommnung der Technologie und beispielsweise die Erfindung der Dampfmaschinen. „Da verrichten jetzt, in Fabriken und Manufakturen jeder Art, mitunter auch beim Feldbau, Maschinen tausend Mal mehr Arbeit, als die Hände aller jetzt müßigen Wohlhabenden, Gebildeten und Kopfarbeitenden jemals vermocht hätten, und als mithin durch Abstellung alles Luxus und Einführung eines allgemeinen Bauernlebens je erreicht werden könnte. Die Erzeugnisse aller jener Betriebe aber kommen keineswegs den Reichen allein, sondern Allen zu Gute. Dinge, die ehemals kaum zu erschwingen waren, sind jetzt wohlfeil und in Menge zu haben, und auch das Leben der niedrigsten Klasse hat an Bequemlichkeit viel gewonnen.“[iii]

[i] Spicilegia, S. 177-178. D, 5, S. 268-269.
[ii] D, 5, S. 269-270, 736.
[iii] D, 5, S. 270. Spicilegia, S. 178-179.

Die weiteren Teile der Serie «Arthur Schopenhauer als Menschenfreund» finden Sie in unserem Schopenhauer-Dossier.

Zum Autor

Ernst Ziegler (Jg. 1938) war bis 2003 Stadtarchivar in St. Gallen. Er ist Privatdozent an der Universität St. Gallen, Historiker und Paläograph. Bei C.H. Beck in München hat er drei Bände von Schopenhauers Handschriftlichem Nachlass herausgegeben, die Senilia, die Specilegia und die Pandectae sowie die Schopenhauer-Textsammlungen Die Kunst, sich Respekt zu verschaffen, Die Kunst am Leben zu bleiben und Über den Tod. Im Schwabe Verlag zu Basel erschien 2015 die Anthologie Burckhardt und Schopenhauer. Bei Königshausen & Neumann in Würzburg erschienen 2017 die beiden Bände Cogitata und Cholerabuch, 2018 Et in Arcadia ego — Arthur Schopenhauer in Italien und 2019 die Philosophari. Im Oktober 2019 begann er Schopenhauer e la vispa Teresa (L`Italia, le donne, le avventure) von Anacleto Verecchia (2006) ins Deutsche zu übertragen. In der Zeitschrift „Aufklärung und Kritik“ sind erschienen Magie und Hexerei bei Arthur Schopenhauer, Schopenhauer und Spinoza, Arthur Schopenhauer und Giordano Bruno sowie Arthur Schopenhauer und Dante Alighieri.

Ernst Ziegler
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