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Stadt St.Gallen
30.07.2024
31.07.2024 07:37 Uhr

Perlen aus dem «Stadtspiegel»: Plötzlich auf der Flucht

Deutsche Infanteristen zu Kriegsbeginn
Deutsche Infanteristen zu Kriegsbeginn Bild: Sammlung Anton Hubauer
Vera Zürcher vom Stadtarchiv hat für den «Stadtspiegel», die Personalzeitschrift des städtischen Personals, und für stgallen24 Interessantes aus der St.Galler Geschichte zusammengestellt. Heute: Die tragische Geschichte von Joachim Steinmeier. Während er sich in St.Gallen aufhielt, wurde ihm der Erste Weltkrieg zum Verhängnis.

Beim Gedanken an ein Archiv n Begriffen «Archiv», «Keller», «Schachtel», «Akten» und «Schutzraum» entstehen vor dem geistigen Auge Bilder von dunklen, abgeschlossenen Räumen, in denen es kein Leben gibt. Vor sich türmenden Bergen an Informationen kann es schwierig sein, sich nicht darin zu verlieren. Doch je näher man «hineinzoomt», je genauer man hinschaut, desto besser gelingt es, ein individuelles Leben zu rekonstruieren. Und dann merkt man: Die Akten leben.

In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf die tragische Geschichte von Joachim Steinmeier (alle Namen und Lebensdaten wurden für diesen Text anonymisiert). Während er sich in St.Gallen aufhielt, wurde ihm der Erste Weltkrieg zum Verhängnis.

Joachim Steinmeier kam am 14. Juli 1877 in Österreich-Ungarn zur Welt.

Mit 29 Jahren kam er im September 1906 nach St.Gallen. Dort führte er eine Weile lang ein unscheinbares Leben. Er war gelernter Zimmermann und arbeitete in verschiedenen Bauunternehmen, darunter beim bekannten St.Galler Architekten Heene oder dem Baugeschäft Bärlocher & Scherrer. Sein Taglohn betrug dort Fr. 8.50.

1916 erhielt Steinmeier einen Brief. Darin wurde er zu einer Musterung für den Kriegsdienst für Österreich-Ungarn aufgeboten. Doch er ging nicht zur Musterung. Diese Entscheidung sollte für Steinmeier folgenreich sein. Denn er war jetzt ein Refraktär. (Refraktäre sind nicht dasselbe wie Deserteure: Während man zum Deserteur wird, wenn man als eingezogener Soldat von seiner Truppe flieht, gilt man bereits dann als Refraktär, wenn man den Dienst gar nicht erst antritt.)

Soldaten im Ersten Weltkrieg (1914-1918) Bild: StadtASG, PA/X/116/3.

Kurz darauf, am 5. Mai im selben Jahr, lief sein Arbeitsbuch, ein amtliches Dokument, worin seine bisherigen Anstellungen festgehalten waren und das gleichzeitig als Ausweisschrift diente, ab. Weil er nicht zur Musterung erschienen war, erneuerten es die Heimatbehörden nicht. Damit war Steinmeier nun schriftenlos. Sein Leben geriet aus den Fugen.

In den Nachbarländern wütete der Erste Weltkrieg und es zogen viele Kriegsflüchtlinge, Deserteure und Refraktäre, in die neutrale Schweiz.

Die Fahnenflüchtigen wurden von den Behörden nur widerwillig aufgenommen, weil Desertion und Dienstverweigerung als grundsätzlich unehrenhaft galten. Die Stimmung in der Schweiz war unsicher und unruhig. Die Politik hatte Angst vor Spionage und fürchtete sich, von zu vielen Kriegsflüchtlingen überrollt zu werden. Einige Politiker wiederum appellierten an die Moral und machten klar, dass nicht alle Kriegsflüchtlinge über den gleichen Kamm geschert werden dürften.

Man sah sich also mit einem Dilemma konfrontiert. Bis 1915 war es den Schweizer Behörden erlaubt gewesen, Deserteure und Refraktäre «wegen schlechten Verhaltens oder fehlender Existenzsicherung auszuweisen». Wer gegen die Gesetze verstiess oder von Armut betroffen war, wurde ausgeliefert. Weil diese Regelung aber humanitären Werten widersprach, verbot der Bundesrat am 30. Juni 1916 die Abschiebung von Deserteuren und Refraktären über Kantons- und Landesgrenzen.

Auch weil es international keine Regelungen gab, wie mit Deserteuren und Refraktären verfahren werden sollte, sah sich die Regierung zur Reaktion gezwungen. Der Bundesrat hatte im Oktober 1915 ein Kreisschreiben an die Kantone gesandt. Ihnen wurde u. a. mitgeteilt, dass den Refraktären nach Verfall ihrer Ausweisschriften «eine Rückreise in ihre Heimatstaaten nicht zugemutet werden könne und die Schweiz diese Refraktäre und ihre Familien dulden müsse.» Solange Krieg herrschte, durften die Kantone niemanden aus ihrem Wohnsitzkanton ausweisen.

Vor einer Abschiebung hatte sich Steinmeier zum Zeitpunkt des Ablaufs seiner Ausweisschriften also nicht zu fürchten.

Trotzdem brauchte er eine neue Aufenthaltsbewilligung. Er reichte ein entsprechendes Gesuch beim Kanton ein. Die Sache wurde auch vom St.Galler Stadtrat geprüft und Steinmeiers bisheriges Leben durchleuchtet. Aus den Protokollen des Stadtrates vom 13. Juli 1917 geht hervor, dass sich, entgegen Steinmeiers Angaben bei seiner Anmeldung in St.Gallen, «zufällig» herausgestellt habe, dass Steinmeier seit Jahren verheiratet war; seine Frau und Tochter lebten in Bürglen, Steinmeier hingegen unterhielt eine Affäre mit «einem Mädchen von Glarus, die bereits drei Kinder von ihm besitzt».

Für deren Unterhalt von Fr. 50 im Monat kam Steinmeier auf. Bei seinem Taglohn musste er dafür knapp sechs Tage arbeiten bzw. etwa einen Viertel seines Monatsgehalts dafür aufwenden. Ausserdem hatte Steinmeier in Tablat und St.Gallen verschiedene kleinere Vorstrafen wegen Unzucht und Ruhestörung erlitten und galt als fruchtlos Betriebener.

Um nun die Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, musste Steinmeier zusätzlich zu den Alimenten, die er ohnehin schon leisten musste, eine Kaution von 700 Franken bezahlen. Diese Kaution wurde in dieser Zeit in verschiedenen Kantonen erhoben und dienten ihnen als Sicherheit für den Fall, dass ihnen «durch die Duldung der betreffenden […] Refraktäre ökonomische oder rechtliche Nachteile entstanden.» Den Kautionsbetrag durfte Steinmeier mit monatlich rund 10 Franken abstottern. Man kann sich nun ausrechnen, dass für ihn zum Leben nicht mehr viel übrig blieb.

Der Druck auf Steinmeier erhöhte sich mit der Zeit. Als nämlich das Evangelische Pfarramt in Bürglen, wo seine Ehefrau und seine Tochter lebten, den St.Galler Stadtrat anfragte, ob Steinmeier «nicht zur Mithülfe an die Unterhalts- und Erziehungskosten seiner Tochter Katharina […] verhalten werden könnte», erklärte er, «ausserstande zu sein, einen Unterhaltsbeitrag für seine Tochter Katharina aufzubringen.

Er selbst müsse knapp durch, um seine bisherigen Alimentationspflichten erfüllen zu können. Die Tochter sei nun 13 Jahre alt und könne bald etwas verdienen. Seine Sorge müsse sich auf seine jüngsten Kinder konzentrieren.» Die Vormundschafts- und Armenverwaltung hielt es daher für aussichtslos, «dem Manne weitere Leistungen aufzuerlegen.»

Am 27. Juli 1917 erhielt Steinmeier nach Abzahlung seiner Kaution seine Aufenthaltsbewilligung.

Doch der nächste Schicksalsschlag folgte bald. Am 4. September desselben Jahres erwog das Stadtparlament die Heimschaffung des «Mädchen[s] aus Glarus», genauer der ledigen Schirmmacherin Monika Hauenstein, die von Steinmeier vier uneheliche Kinder besass. «Abgesehen von ethischen Erwägungen könne das Verhältnis Hauenstein-Steinmeier schon deshalb nicht geduldet werden, weil die Kinder, welche Steinmeier zurzeit allerdings unterstütze, früher oder später doch der Heimatgemeinde zur Last fallen werden.»

Man fürchtete, die Mutter könnte ohne die Unterstützung Steinmeiers, auf die man aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse nicht vertraute, nicht für ihre Kinder aufkommen. Vier ihrer fünf Kinder – eines besass sie nicht von Steinmeier – waren nämlich bereits «gut aufgehoben»: Eines in der Heimatgemeinde Glarus, eines bei der Mutter, drei bei zwei verschiedenen Pflegefamilien. Sie standen alle unter Vormundschaft. Obschon Steinmeier in der Lage war, für seine Kinder aufzukommen, würde er sich, das befürchtete der Stadtrat, wohl «voraussichtlich seiner Pflichten zu entledigen suchen, wenn die Kindsmutter in der Heimat versorget würde.»

Der Refraktär Steinmeier wurde den Behörden also mehr und mehr ein Dorn im Auge. Immerhin hatte sich Monika Hauensteins Vater verpflichtet, seine Tochter und seine Grosskinder zu unterstützen, falls Steinmeier seinen Verpflichtungen nicht nachkommen sollte. Für sie war also vorerst gesorgt.

Heimatort von Monika Hauenstein. Glarus, Gemeindehaus mit Glärnisch (undatiert) Bild: StadtASG, PA Foto Gross, PKK6476

Die ganze Angelegenheit war deshalb eine grössere Sache, weil während und wegen des Ersten Weltkriegs grosse Teile der Bevölkerung von Armut betroffen waren.

Allein im Juni 1918 mussten über 15 Prozent der schweizerischen Bevölkerung, also fast jede siebte Person, behördlich unterstützt werden.

Frauen waren ausserdem aufgrund von sozialen, ökonomischen und rechtlichen Diskriminierungen häufiger arm als Männer. Die ledige Monika Hauenstein verfügte trotz ihrer Arbeit als Schirmmacherin ohne angetrauten Mann über eine geringe finanzielle Absicherung und sie und ihre Kinder liefen also hohe Gefahr, zu einem Armutsfall zu werden. Für die Versorgung der Armengenössigen war lange nicht die jeweilige Wohn-, sondern die Heimatgemeinde verantwortlich.

Der Stadtrat stand nun vor einem Dilemma: Sollte er das uneheliche Konkubinatsverhältnis dulden, wenn er damit einen Armutsfall und damit eine grössere finanzielle Belastung für den Staat verhindern konnte? Er wählte einen Mittelweg und zog dabei die Schrauben immer mehr an: Sollte es Steinmeier nicht schaffen, die Alimente zu zahlen, so habe der Refraktär «Zwangsversorgung zu befürchten».

Steinmeier hatte seit zwei Jahren bei Hauenstein an der Lämmlisbrunnenstrasse gewohnt.

Dieses uneheliche Zusammenleben im Konkubinat war bereits einige Wochen vor dem Stadtratsbeschluss polizeilich sistiert worden. Steinmeier hatte also keinen Wohnort mehr und wechselte seine Logisgeber in der Folge sehr oft.

Der Stadtrat machte ausserdem deutlich, dass die Tochter sofort und «ohne weitere Umstände» heimgeschafft würde, «wenn eine neue Verfehlung einträte.» Trotzdem, «so gravierend der Fall an und für sich ist», wollte man die «Sünderin» – die Mutter wurde also als Schuldige in dieser Sache angesehen! – in St.Gallen weiterhin dulden und war zuversichtlich, dass sich die Situation verbessern würde. Der Stadtrat empfahl daher, «zurzeit» von der Heimschaffung abzusehen.

Dem stimmte dann auch Hauensteins Heimatgemeinde zu, denn: «Vom armenrechtlichen Standpunkt aus mangle die Handhabe für eine Heimschaffungsmassnahme, weil weder die wohnörtliche, noch viel weniger die heimatliche Armenpflege für die Kindsmutter und die Kinder Unterstützungen leisten und vom allgemein sittenpolizeilichen und strafgesetzlichen Standpunkte aus reiche die Verfehlung der Monika Hauenstein nicht hin, dieser die Niederlassung im herwärtigen Kanton zu versagen bezw. zu entziehen.»

Allerdings wird Monika Hauenstein ab diesem Zeitpunkt an die Vormundschafts- und Armenverwaltung überwiesen.

Wohnort von Joachim Steinmeier und Monika Hauenstein (1925) Bild: StadtASG, PA Foto Gross, BA341

Dieses Urteil gleicht einem Ultimatum. Hauenstein wie Steinmeier schienen den umgangssprachlichen «letzten Zwick an der Geissel» zu haben; ihnen drohten bei der nächsten Verfehlung strenge Konsequenzen, indem nämlich durch die Heimschaffung der Mutter und der Abschiebung des Vaters die Familie auseinandergerissen würde.

Das Ganze ging noch anderthalb Jahre lang gut.

Doch im März 1919, bald nach Ende des Kriegs, als jenseits der Grenzen die Bestrafung der Kriegsflüchtlinge nicht mehr zu befürchten war, beantragte der Stadtrat die Abschiebung von Joachim Steinmeier. Man kann mutmassen, dass Steinmeiers monetäre Situation prekär war, denn mit den Kautionsraten war er offenbar «immer im Rückstande», ebenso mit seinen Steuerleistungen. Dass er zwar seine Alimente immer bezahlt hatte, «hätte an und für sich Anlass bieten können, von seiner Abschiebung Umgang zu nehmen.»

Aber der Stadtrat schrieb, dass die Alimentierung auf Kosten Dritter erfolge, nämlich Steinmeiers Frau, die er nicht unterstützte, und dies zeigten überdies auch die fruchtlosen Betreibungen. Die Kinder würden in für ihre Gesundheit sehr nachteiligen Verhältnissen aufgezogen, «sodass dringend zu wünschen ist, dass die Hauenstein und ihre Kinder ebenfalls heimgeschafft werden können, was sofort der Fall sein wird, wenn die Abschiebung des Steinmeier erfolgt und das Zusammenleben aufhört und auch weitere Alimentationszahlungen mindestens nicht mehr regelmässig eingehen werden.» Der Bezirksrat und die Vormundschafts- und Armenverwaltung begrüssten diese Erledigung sehr.

Um dies zu verhindern, legte Steinmeier über seinen Anwalt ein Wiedererwägungsgesuch ein.

Doch der Stadtrat hielt an seinem Beschluss zur Abschiebung fest. Den Anlass dazu sah er darin, dass Steinmeier mit den Alimenten für eines seiner verkostgeldeten Kinder im Rückstand war und sich geweigert hatte, das Geld aus der Refraktärskaution, die er für seine Aufenthaltsbewilligung gezahlt hatte und deren Betrag er bei einer Ausschaffung zurückerhalten würde, direkt für die ausstehenden Alimente zu verwenden.

«Nach den vorgenommenen Erhebungen läge es wohl im ökonomischen Interesse der Heimatgemeinde der Kinder Hauenstein, wenn Steinmeier nicht abgeschoben würde. Hingegen erheischt die Sorge für die körperliche und geistige Gesundheit der Kinder, dass die äussern Umstände, unter denen sie gegenwärtig leben, eine Aenderung erfahren. Dies ist solange nicht möglich, als Steinmeier hier ist. Es spricht also das richtig verstandene Interesse der Kinder Hauenstein nicht gegen, sondern im Gegenteil für die Abschiebung.»

Das Wiedererwägungsgesuch half nichts. Steinmeier wurde zurück nach Österreich abgeschoben.

Ihm war immerhin eine Frist «zur Liquidation seiner Effekten», d. h. zum Verkauf seiner beweglichen Habe, eingeräumt worden, doch die Entscheidung der Behörden stand fest.

Aus dieser prekären Lage sieht Steinmeier nur noch einen Ausweg. Bevor er im Oktober 1919 ganz aus den St.Galler Akten verschwindet, ist zu lesen: «In den letzten Tagen ist nun bekannt geworden, dass Steinmeier ohne vorschriftsgemässe Bewilligung nach Stäfa, Kanton Zürich, verzogen ist.

Der Stadtrat nimmt Veranlassung, das kantonale Polizeidepartement anzufragen, welche Folge es seinem Abschiebungsantrag gegeben hat. Gleichzeitig werden das Polizeiinspektorat und die Finanzverwaltung angefragt, welche Konsequenzen sie an das Aufhören der polizeilichen Meldung bezw. der Kautionsratenzahlung geknüpft haben.»

Zufluchtsort von Joachim Steinmeier. Schiff auf dem Zürichsee bei Stäfa (undatiert) Bild: StadtASG, PA Foto Gross, DIA1943

Welche Wege Joachim Steinmeier und Monika Hauenstein danach einschlugen, wissen wir nicht. Diese Teile der Geschichte schlummern andernorts in einem Keller auf Papier und warten darauf, zum Leben erweckt zu werden.

Vera Zürcher
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