Kurz darauf, am 5. Mai im selben Jahr, lief sein Arbeitsbuch, ein amtliches Dokument, worin seine bisherigen Anstellungen festgehalten waren und das gleichzeitig als Ausweisschrift diente, ab. Weil er nicht zur Musterung erschienen war, erneuerten es die Heimatbehörden nicht. Damit war Steinmeier nun schriftenlos. Sein Leben geriet aus den Fugen.
In den Nachbarländern wütete der Erste Weltkrieg und es zogen viele Kriegsflüchtlinge, Deserteure und Refraktäre, in die neutrale Schweiz.
Die Fahnenflüchtigen wurden von den Behörden nur widerwillig aufgenommen, weil Desertion und Dienstverweigerung als grundsätzlich unehrenhaft galten. Die Stimmung in der Schweiz war unsicher und unruhig. Die Politik hatte Angst vor Spionage und fürchtete sich, von zu vielen Kriegsflüchtlingen überrollt zu werden. Einige Politiker wiederum appellierten an die Moral und machten klar, dass nicht alle Kriegsflüchtlinge über den gleichen Kamm geschert werden dürften.
Man sah sich also mit einem Dilemma konfrontiert. Bis 1915 war es den Schweizer Behörden erlaubt gewesen, Deserteure und Refraktäre «wegen schlechten Verhaltens oder fehlender Existenzsicherung auszuweisen». Wer gegen die Gesetze verstiess oder von Armut betroffen war, wurde ausgeliefert. Weil diese Regelung aber humanitären Werten widersprach, verbot der Bundesrat am 30. Juni 1916 die Abschiebung von Deserteuren und Refraktären über Kantons- und Landesgrenzen.
Auch weil es international keine Regelungen gab, wie mit Deserteuren und Refraktären verfahren werden sollte, sah sich die Regierung zur Reaktion gezwungen. Der Bundesrat hatte im Oktober 1915 ein Kreisschreiben an die Kantone gesandt. Ihnen wurde u. a. mitgeteilt, dass den Refraktären nach Verfall ihrer Ausweisschriften «eine Rückreise in ihre Heimatstaaten nicht zugemutet werden könne und die Schweiz diese Refraktäre und ihre Familien dulden müsse.» Solange Krieg herrschte, durften die Kantone niemanden aus ihrem Wohnsitzkanton ausweisen.
Vor einer Abschiebung hatte sich Steinmeier zum Zeitpunkt des Ablaufs seiner Ausweisschriften also nicht zu fürchten.
Trotzdem brauchte er eine neue Aufenthaltsbewilligung. Er reichte ein entsprechendes Gesuch beim Kanton ein. Die Sache wurde auch vom St.Galler Stadtrat geprüft und Steinmeiers bisheriges Leben durchleuchtet. Aus den Protokollen des Stadtrates vom 13. Juli 1917 geht hervor, dass sich, entgegen Steinmeiers Angaben bei seiner Anmeldung in St.Gallen, «zufällig» herausgestellt habe, dass Steinmeier seit Jahren verheiratet war; seine Frau und Tochter lebten in Bürglen, Steinmeier hingegen unterhielt eine Affäre mit «einem Mädchen von Glarus, die bereits drei Kinder von ihm besitzt».
Für deren Unterhalt von Fr. 50 im Monat kam Steinmeier auf. Bei seinem Taglohn musste er dafür knapp sechs Tage arbeiten bzw. etwa einen Viertel seines Monatsgehalts dafür aufwenden. Ausserdem hatte Steinmeier in Tablat und St.Gallen verschiedene kleinere Vorstrafen wegen Unzucht und Ruhestörung erlitten und galt als fruchtlos Betriebener.
Um nun die Aufenthaltsbewilligung zu erhalten, musste Steinmeier zusätzlich zu den Alimenten, die er ohnehin schon leisten musste, eine Kaution von 700 Franken bezahlen. Diese Kaution wurde in dieser Zeit in verschiedenen Kantonen erhoben und dienten ihnen als Sicherheit für den Fall, dass ihnen «durch die Duldung der betreffenden […] Refraktäre ökonomische oder rechtliche Nachteile entstanden.» Den Kautionsbetrag durfte Steinmeier mit monatlich rund 10 Franken abstottern. Man kann sich nun ausrechnen, dass für ihn zum Leben nicht mehr viel übrig blieb.
Der Druck auf Steinmeier erhöhte sich mit der Zeit. Als nämlich das Evangelische Pfarramt in Bürglen, wo seine Ehefrau und seine Tochter lebten, den St.Galler Stadtrat anfragte, ob Steinmeier «nicht zur Mithülfe an die Unterhalts- und Erziehungskosten seiner Tochter Katharina […] verhalten werden könnte», erklärte er, «ausserstande zu sein, einen Unterhaltsbeitrag für seine Tochter Katharina aufzubringen.
Er selbst müsse knapp durch, um seine bisherigen Alimentationspflichten erfüllen zu können. Die Tochter sei nun 13 Jahre alt und könne bald etwas verdienen. Seine Sorge müsse sich auf seine jüngsten Kinder konzentrieren.» Die Vormundschafts- und Armenverwaltung hielt es daher für aussichtslos, «dem Manne weitere Leistungen aufzuerlegen.»
Am 27. Juli 1917 erhielt Steinmeier nach Abzahlung seiner Kaution seine Aufenthaltsbewilligung.
Doch der nächste Schicksalsschlag folgte bald. Am 4. September desselben Jahres erwog das Stadtparlament die Heimschaffung des «Mädchen[s] aus Glarus», genauer der ledigen Schirmmacherin Monika Hauenstein, die von Steinmeier vier uneheliche Kinder besass. «Abgesehen von ethischen Erwägungen könne das Verhältnis Hauenstein-Steinmeier schon deshalb nicht geduldet werden, weil die Kinder, welche Steinmeier zurzeit allerdings unterstütze, früher oder später doch der Heimatgemeinde zur Last fallen werden.»
Man fürchtete, die Mutter könnte ohne die Unterstützung Steinmeiers, auf die man aufgrund seiner finanziellen Verhältnisse nicht vertraute, nicht für ihre Kinder aufkommen. Vier ihrer fünf Kinder – eines besass sie nicht von Steinmeier – waren nämlich bereits «gut aufgehoben»: Eines in der Heimatgemeinde Glarus, eines bei der Mutter, drei bei zwei verschiedenen Pflegefamilien. Sie standen alle unter Vormundschaft. Obschon Steinmeier in der Lage war, für seine Kinder aufzukommen, würde er sich, das befürchtete der Stadtrat, wohl «voraussichtlich seiner Pflichten zu entledigen suchen, wenn die Kindsmutter in der Heimat versorget würde.»
Der Refraktär Steinmeier wurde den Behörden also mehr und mehr ein Dorn im Auge. Immerhin hatte sich Monika Hauensteins Vater verpflichtet, seine Tochter und seine Grosskinder zu unterstützen, falls Steinmeier seinen Verpflichtungen nicht nachkommen sollte. Für sie war also vorerst gesorgt.