Öffentliche Uhren: Der Knochenjob des Uhrenrichters
Dass wir heute ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass überall in unserer Zeitzone immer die gleiche Zeit herrscht, ist noch nicht lange so selbstverständlich. In der Schweiz gab es lange Zeit viele unterschiedliche Zeitsysteme. So wurden beispielsweise bis 1798 in Basel die Stunden nicht als abgelaufene, sondern als beginnende Stunden gezählt, weswegen der höchste Sonnenstand nicht um 12 Uhr, sondern um 1 Uhr war. Die Basler Zeit ging den Zeiten in ihrem Umfeld also vor.
Auf der Alpensüdseite wurde der Tag nicht in zweimal zwölf, sondern in einmal 24 Stunden unterteilt. Aber die Zählung begann nicht etwa um Mitternacht, sondern bei Sonnenuntergang. Das führte dazu, dass die Sonne immer zur gleichen Zeit unterging, ihr Aufgang aber immer zu anderen Zeiten war. Dieses System hielt sich in einigen Regionen des Tessins bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert verdichteten sich die Städte, ländliche Gebiete wurden langsam erschlossen und der Verkehr und die Kommunikation wurden schneller. Die Zeit wurde zunehmend ein bestimmendes Prinzip. Viele Menschen arbeiteten in der Fabrik, wo Schichtbetrieb herrschte, den man organisieren musste. Es entstanden Büros mit Öffnungszeiten. Neue, gegenseitig voneinander abhängige Arbeitsabläufe zwangen zu einer Synchronisation der Uhren.
Im 19. Jahrhundert wurden Taschenuhren, die bis dahin Luxusgüter gewesen waren, zentraler und für immer mehr Menschen erschwinglich.
Wer selbst keine Taschenuhr besass, war auf die Anzeige der Zeit im öffentlichen Raum angewiesen. Schon 1866 schrieb Turmuhrmacher J. Hugelshofer: «Alles im Geschäfts- und Familienleben richtet sich nach der von Thurmuhren bestimmten Zeit» und er war der Meinung, es gebe «für eine Gemeinde […] wohl keinen wichtigern Gegenstand, als eine richtig gehende Thurmuhr, welche die Normaluhr bildet, worauf alle gerichtet werden, wegen Abfahrten der Lokomotiven, Dampfschiffen und Posten, denn Zeit ist Geld».
Hugelshofer hatte in St.Gallen beim Erscheinen seiner Schrift bereits die Uhren an einer Kirche (welche ist unklar), dem Waisenhaus und am Bahnhof wie auch am Rathaus und am Spisertor erstellt. Handschriftlich hinzugefügt wurde später die Uhr an der Strafanstalt. Die Zeit wurde auf dem Zifferblatt und mit Glockenschlägen angezeigt. Weitere Uhren der Stadt waren auf den Stadttoren, an Privathäusern und an weiteren Kirchen angebracht.
Alle diese Uhren funktionierten rein mechanisch. Sie waren aus unterschiedlichen Metallen gefertigt, die sich verbogen, ausdehnten und zusammenzogen, weil sie ständig den wechselnden Temperaturen und der Witterung ausgesetzt waren. Ihr Gang war nur über eine kurze Zeit regelmässig und synchron.
Die Uhren mussten jeden einzelnen Tag neu gestellt werden, wie eine «Instruction für den Stadtuhrenrichter» aus dem Jahr 1826 verrät.
Dazu musste der Stadtuhrenrichter jeden Morgen auf denjenigen Turm steigen, von dem aus er alle Glocken schlagen hören konnte. Ihre Abweichungen, die nie mehr als zwei bis drei Minuten betragen durften, hatte er zu notieren und die Uhren, indem er jeden einzelnen Uhrenturm bestieg, entsprechend aufzuziehen. Die Zeit sollte er dabei nach dem Sonnenstand richten. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das regelmässige Fetten der Uhrwerke und jeden Oktober das Auseinanderbauen, Reinigen und Zusammensetzen der Uhrwerke.
Während die Richtzeit der Uhren am Anfang des 19. Jahrhunderts offenbar relativ zum Sonnenstand war, mussten die St.Galler Uhren am Ende des 19. Jahrhunderts immer nach der Uhr im Postgebäude gestellt werden. Doch welche Zeit war das genau? Entgegen den Erwartungen brachte die Schweizer Bundesstaatgründung von 1848 nämlich keine Vereinheitlichung der unterschiedlichen regionalen Zeitsysteme, sondern es existierten viele Lokalzeiten nebeneinander.
So herrschten in St.Gallen die St.Galler Zeit, in Genf die Genfer Zeit und in Basel die Basler Zeit.
Diese wichen zwar nur um einige Minuten voneinander ab, führten aber besonders beim interregionalen und internationalen Verkehr und in der Telegrafie zu grossen Problemen. Der Bundesrat verfügte daher 1853 für den Post- und Telegrafieverkehr die mittlere Lokalzeit von Bern als Einheitszeit. Die Berner Zeit galt damit auch für St.Gallen und war die Zeit, nach der der Stadtuhrenrichter die Turmuhren zu richten hatte.
Ein Stadtuhrenrichter musste noch lange Zeit im Amt gewesen sein. Zwar wurden viele Stadtuhren schon 1903 eklektisch betrieben, z. B. diejenigen beiden an der Kaserne, dem Rathaus oder einigen Tramwartehäuschen. Aber es gab weiterhin verschiedene mechanische Uhren. Eine davon war die Uhr an der St.Mangen-Kirche, die 1980 restauriert wurde und noch immer händisch gestellt und aufgezogen werden musste.
Man wollte im Zuge der Restauration das Uhrwerk mit vier Motorzeigerwerken – eines für jede Uhr am Turm – ersetzen, die über eine Quarzuhr elektrisch gesteuert wurden. Ihre Zeit erhielten sie im Minutentakt vom Uhrensender in Prangins. Der viertelstündliche Glockenschlag hingegen sollte weiterhin mechanisch ausgelöst werden.