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Stadt St.Gallen
11.02.2024
03.04.2024 14:25 Uhr

Perlen aus dem «Stadtspiegel»: Diwanchösseliuflauf mit Tomatesosse

Die Conservenfabrik St.Gallen AG in der Nähe des Bahnhofs Winkeln
Die Conservenfabrik St.Gallen AG in der Nähe des Bahnhofs Winkeln Bild: StadtASG, PA/X/61/3
Vera Zürcher vom Stadtarchiv hat für den «Stadtspiegel», die Personalzeitschrift des städtischen Personals, und für stgallen24 Interessantes aus der St.Galler Geschichte zusammengestellt. Im vierten und letzten Beitrag wird es kulinarisch.

Eine schnelle Portion Ravioli, ein Apfelmus zum Dessert, Birnen, Aprikosen, Bohnen, Erbsli, Rüebli, ein Confibrötli zum Zmorge oder Riz Casimir mit Fruchtsalat. Sie ahnen es: Es geht um Konservendosen. Die kleine Conservenfabrik St.Gallen AG war in den 1960er-Jahren für mehr als 50 % der schweizerischen Ravioliausfuhren verantwortlich. (1)

Ihre ehemaligen Räumlichkeiten in der Nähe des Bahnhofs Winkeln sind heute umgenutzt. Doch der Geist der alten Fabrik schlummert in den Akten: Lesen Sie im neuen «Fund aus dem Stadtarchiv» die konservierten, nicht blechernen, sondern durchaus lebendigen Stimmen der Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter.

Die Mitarbeiter kamen in ihrer «Hauspost» zu Wort. Das war eine hausinterne Broschüre, die vierteljährlich erschien und Neuigkeiten über die Ernte und damit das zu konservierende Gut, Neunschaffungen von Geräten, Mobiliar oder Fahrzeuge, Fabrikbesichtigungen, Personalnachrichten und die eine oder andere Anekdote enthielt.

Besonders eine dieser «Hausposten» ist spannend: Die «Geburtstagspost» für Hans Ulrich Hüeblin, den langjährigen Direktor der «Conservi». Für diese Ausgabe wurden von den Angestellten spannende und lustige Begebenheiten zusammengetragen. Sie richteten sich in der «Geburtstagspost» als direkte Ansprache an Direktor Hüeblin. Im Folgenden werden viele davon unverändert als Zitate wiedergegeben. So erwachen die Stimmen der Arbeiter in diesen persönlichen Geschichten wieder zum Leben.

Anlieferung von Früchten zur Konservierung in die Fabrik (ca. 1955) Bild: StadtASG, PA/X/61/5

Hans Ulrich Hüeblin war der einzige Gründer, der sein Leben lang in der Konservenfabrik blieb. Sie war am 14. Januar 1931 gegründet worden und bot während der Hochsaison Beschäftigung für rund 350 Angestellte. Viele von ihnen arbeiteten am Fliessband, aber «[e]s wurde noch viel Handarbeit geleistet. Hans Hüeblin stand der Firma als Patron der alten Schule vor und war immer einer der letzten, der Feierabend machte.» (2)

Die Handarbeit wurde zum grösseren Teil von Frauen ausgeübt. Zu den Aufgaben zählten beispielsweise das Aussortieren von zur Konservierung ungeeigneten Erbsen und Bohnen oder die «tränenreiche» Arbeit des Zwiebelschälens. (3) Dafür erhielten sie in den 1940er-Jahren gerade mal einen Stundenlohn von 55 Rappen plus 14 Rappen Teuerungszulage, was nicht nur von den Arbeiterinnen, sondern auch von der Fabrikleitung als zu wenig empfunden wurde. (4)

Ob die Löhne im Anschluss erhöht wurden, wissen wir nicht. Frauen waren auch im Verkauf oder – das mag vielleicht verblüffen – in der Spedition tätig. Die Camions, so berichtet die «Hauspost» von 1962, gehörten zu den Schnellsten der Schweiz. Die Männer übernahmen eher mechanische Aufgaben in der Werkstatt oder der Schlosserei: Sie heizten die Anlage oder verschweissten Maschinenteile.

Arbeit am Bohnenverleseband (ca. 1955) Bild: StadtASG, PA/X/61/4

Die Arbeit war hart: Überstundenwaren an der Tagesordnung. Sie wurden weder mit Geld noch mit Freizeit vergütet. Die Angestellten arbeiteten oft bis zum Umfallen. Als sich 1933 eine Rekord-Erbsenernte ereignete, «arbeitete die Belegschaft ununterbrochen von Donnerstag bis Samstag. Der Heizer wurde vom Schlaf überwältigt und ein guter Kollege versah seinen Posten.» (5)

Als kleine Entschädigung für diese Leistungen erhielten die Angestellten im Sommer ein Gratis-Körbli mit den Früchten, die gerade in der Fabrik verarbeitet wurden. Entschädigung für einen grossen Einsatz erhielten die Angestellten auch, als in St.Gallen das Kinderfest stattfand, aber auf den Dreschstellen wacker weitergearbeitet wurde: «Wie erstaunt waren wir, als uns Herr Hüeblin für den entgangenen freien Tag 50 Franken in die Hand drückte.» (6)

Doch die «grösste Überraschung war wohl die Gratifikation [im Jubiläumsjahr 1956] kurz nach dem Neujahr mit einem Goldvreneli für jedes Dienstjahr.» (7)

Hüeblin genoss unter den Arbeitern einen strengen, aber guten Ruf. In Bezug auf die Zusammenarbeit wurde stets von «direkter Demokratie» gesprochen; man könne sich mit allen Anliegen direkt an Herrn Hüeblin wenden. (8)

Seine strenge Seite äusserte sich vor allem bei Regelverstössen: Strafen gab es, wenn man sich beispielsweise nicht an das Rauch- oder Essverbot während der Arbeitszeit hielt. Dann «bekam man es schriftlich» (9) oder mit der «Donnerstimme» von Direktor Hüeblin höchstpersönlich zu tun. Diese wirkte auf gewisse Mitarbeiter offenbar so einschüchternd, dass sie während des «Donnerwetters» einfach davonliefen. (10)

Das Dosenlager der «Conservi» (ca. 1955) Bild: StadtASG, PA/X/61/4

Andere wiederum versuchten, dem Direktor zur Vertuschung der eigenen Fehler einen Bären aufzubinden: «Herr Bieri war einmal mit dem Stapeln von Beerenfässern beschäftigt. Vorsichtshalber stellte er eine Karrette und Sägemehl bereit. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Das allerletzte Fass polterte vom Stapel herunter und barst. Schnell wurden die Himbeeren mit Sägemehl zugedeckt und aufgeschaufelt, der Boden gründlich gefegt. Da kamen Sie, Herr Hüeblin, dazu, ausnahmsweise nicht auf dem Höhepunkt des Dramas. Statt eines Tadels wurden die Glückspilze mit einem Lob für ihren Sauberkeitssinn bedacht.» (11)

Ein anderes Mal war beim Sirupabfüllen «der Boden ganz rot. Es begann ein Verhör: ‘Habt ihr ausgeleert?’ – ‘Nein’ – ‘Was ist das auf dem Boden?’ – ‘Wasser’. Sie glaubten dieser einfachen Erklärung nicht, strichen mit dem Finger über den Boden und leckten daran. ‘Da hat es aber noch Zucker drin.’». (12)

Ob die Sache mit Humor beendet wurde oder eine Strafe nach sich zog, wissen wir nicht. Bei Fehlern, die der Firma ökonomisch schadeten, musste «jeder, der einen Schaden verursachte, dafür geradestehen» - ganz egal, welche Stellung er oder sie innehatte. «Herr Füllemann liess einmal aus Unachtsamkeit ein Fass mit Erdbeeren auslaufen. Klar, dass er erwischt wurde. Er hatte für die unbrauchbare Ware während zwei Jahren Raten zu bezahlen.» (13)

Um nicht wie Herr Füllemann jahrelange Lohneinbussen zu haben, überlegten sich andere sogar eine Methode, um Gewinn zu erwirtschaften: «Weil mit Fässern, die Kirschkonfitüre enthielten, nicht sorgfältig genug umgegangen wurde, lief ein Teil der Ware aus. Die Sünder wurden zur Bezahlung der Ware […] verknurrt. Nicht faul kratzten sie die Konfitüre vom Boden weg, kochten sie auf und verkauften sie nachher an die Conservileute mit Gewinn zu einem Franken pro [Kilogramm]. Aus dem Erlös leisteten sie sich einen Güggelifrass. Es soll vorgekommen sein, dass nach diesem Anfangserfolg hie und da ein Fass nicht ganz unfreiwillig auslief.» (14)

Doch auch Direktor Hüeblin zog hin und wieder den Kürzeren: «Früher musste der Blechtrockenofen von Hand beschickt werden. Das Ende der Einbrennzeit fiel nicht immer mit dem Feierabend zusammen (und Überstunden waren eine Selbstverständlichkeit). Wenn Herr Füllemann zu später Stunde die getrockneten Tafeln aus dem Ofen zog, hatte er als Signal für seine Anwesenheit die Lampe bei der Benzinsäule anzuzünden. Einmal vergass er [sie zu löschen]. Sie sahen von der Villa Sana aus Licht im Fabrikareal und rannten in Pantoffeln herunter, um den vermeintlichen Eindringling zu stellen. Sie hatten die Rechnung allerdings ohne Herrn Füllemans Hund Zar gemacht. Er hielt Sie bei der Kühlraumtüre in Schach, bis Sie von Herrn Füllemann erlöst wurden.» (15)

Ein anderes Mal hatten «Herr Avesani und Herr Füllemann 56 Stunden lang ununterbrochen an der Dreschmaschine gearbeitet. Sie statteten der Dreschstelle einen (Kontroll-?)Besuch ab, als Herr Avesani die Maschine reinigte, währen sein Kollege auf dem blossen Boden schlief. Sie schickten die beiden schlafen und gaben ihnen Ihren Wagen […]. Als die zwei gegen Abend wieder zur Dreschstelle kamen, bot sich ihnen ein trauriges Bild. Sie, der Elektriker und der Schlossermeister waren mit den Tücken der Dreschmaschine nicht vertraut genug gewesen. Einer hatte Schrammen im Gesicht (das waren Sie)[,] der andere ein gestauchtes Nasenbein und der dritte eine Beule an der Stirn. Unter der Maschine lagen Zehner und Zwanziger, welche beim Kampf mit den Mächten der Dreschanlage das Weite gesucht hatten.» (16)

 

Arbeiterin an der Abfüllanlage (ca. 1955) Bild: StadtASG, PA/X/61/4

Es kam vor, dass einige Lebensmittel aufgrund eines Fabrikationsfehlers nicht mehr zum Verkauf angeboten werden konnten. Diese durften dann offenbar von den Arbeitern verzehrt werden: «Etwas anders verhielt es sich bei Linsen mit Würstchen […].

Nach der Sterilisation war die ganze Partie bombiert und wurde als ungeniessbar beiseitegestellt. Zwei Angestellte öffneten eine Anzahl Dosen und entdeckten, dass die Würstchen sehr gut schmeckten. Auch nachträglich gab es kein Bauchweh. Da bezogen sie ihren Znüni tagelang ab diesem Lager und meldeten ihre Feststellung schlussendlich der Direktion.

Dort bekam es […] Einer […] mit der Angst zu tun und warnte sie: ‘es butzt eu denn no.’ Das war aber nicht der Fall (die beiden sind heute noch am Leben). Sie konnten alle Dosen, die nur überfüllt waren, haben und lebten mit ihren Familien wochenlang von Würstchen. Herr Herrmann Schläpfer hat scheints nachher jahrelang keine Wurst mehr angeschaut!» (17)

Wenn Lebensmittel oder Verpackungsmaterial ohne Erlaubnis «verschwanden», forderte der Direktor jedoch stets eine Busse: «In der Dosenfabrikationsabteilung war es eine Zeitlang Mode, über den Mittag mit leeren Dosen an den Fäusten Boxkämpfe auszutragen. Ein frühzeitiger Kontrollgang setzte diesem Sport ein jähes Ende. Die improvisierten Boxerhandschuhe sassen so gut, dass die beiden Kampfpartner sie sich von den Händen wegschneiden mussten. Vielleicht waren sie aber über Ihr unerwartetes Erscheinen so verdattert, dass sie den Unterschied zwischen Ziehen und Stossen nicht mehr kannten. Auf jeden Fall hatte jeder Boxer für 10 leere Dosen aufzukommen.» (18)

Und von «500 kg Pastorenbirnen war auch noch die Rede, die an einem sehr verkehrsreichen Ort gelagert wurden. Als sie hätten verarbeitet werden sollen, hatte es nur noch 2 (in Worten zwei) Früchte. Herr Emil Schläpfer gab zu, 10 Stück gegessen zu haben. Sein Bruder bekannte, einen ganzen Harass geklaut zu haben, allerdings habe es nur noch zwei Birnen darin gehabt. Alle die bestritten, an dieser privaten Verwertungsaktion teilgenommen zu haben, wurden mit einer Busse belegt.» (19)

Verlad der konservierten Lebensmittel in einen SBB-Waggon (ca. 1955) Bild: StadtASG, PA/X/61/5

Den grossen und zeitweise sehr aufopfernden Einsatz seiner Angestellten ehrte Hans Ulrich Hüeblin seinerseits augenzwinkernd in einer weiteren Spezialausgabe der «Hauspost», die zum 50. Firmenjubiläum erschien: «Wie manches Fingerbeeri oder Zeigefinger wuchs nicht mehr nach. Wie mancher leichter und leider auch schwerer Unfall war der Preis selbstlosen Einsatzes.» (20)

Doch auch grösste Einsatz genügte nicht: Die Firma ging 1965 an die Hero über und diese verkaufte sie schliesslich im Januar 1989 an die Fleischwarenfabrik Ernst Sutter AG in Gossau. (21)

Das Erbe der «Conservi» beschränkt sich aber nicht auf einen Schriftzug an umgenutzten Fabrikhallen. Denn einer Innovation, die in der Firma geboren wurde und bald ihren 90. Geburtstag feiert, begegnen wir bis heute: Ein kleiner, intelligenter Verschluss erspart uns den Dosenöffner, indem wir manche Konserven wie Getränkedosen öffnen können. Achten Sie sich beim nächsten Coci, Bier oder der nächsten «Tomatesosse» mal darauf.

Quellen

  • Gallusstadt 48 (1990).
  • Gallusstadt 51 (1993).
  • Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St.Gallen, StadtASG PA/X/61/2.
  • Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St.Gallen, StadtASG PA/X/61/3.
  • Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St.Gallen, StadtASG PA/X/61/4.
  • Stadtarchiv der Politischen Gemeinde St.Gallen, StadtASG PA/X/61/5.

Einzelnachweise

  • Titel «Diwanchösseliuflauf mit Tomatesosse»: Ravioli au gratin in der Vorstellung eines Fünfjährigen. «Hauspost» der Conservenfabrik St.Gallen AG, 02.12.1966. PA/X/61/2.
  • (1) Jubiläumspost (1981), S. 13.
  • (2) Gallusstadt 51 (1993), S. 248.
  • (3) Hauspost (1962).
  • (4) Jubiläumspost (1981), S. 8.
  • (5) Geburtstagspost (1965), S. 3.
  • (6) Geburtstagspost (1965), S. 5.
  • (7) Geburtstagspost (1965), S. 5.
  • (8) Hochzeitspost (1965), S. 12.
  • (9) Jubiläumspost (1981), S. 13.
  • (10) Vgl. Geburtstagspost (1965), S. 2.
  • (11) Geburtstagspost (1965), S. 4.
  • (12) Geburtstagspost (1965), S. 4-5.
  • (13) Geburtstagspost (1965), S. 3.
  • (14) Geburtstagspost (1965), S. 7.
  • (15) Geburtstagspost (1965), S. 6.
  • (16) Geburtstagspost (1965), S. 7.
  • (17) Geburtstagspost (1965), S. 7.
  • (18) Geburtstagspost (1965), S. 3.
  • (19) Geburtstagspost (1965), S. 9.
  • (20) Jubiläumspost (1981), S. 3.
  • (21) Gallusstadt 48 (1990), S. 188.
Vera Zürcher
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