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27.02.2024
27.02.2024 10:31 Uhr

Der amerikanische Traum von 1999

Die erste offizielle WM der Geschichte (1991) ging an die USA. «Wir kehrten als Weltmeisterinnen zurück und dachten: ‹Jetzt fasst der Fussball auch in Amerika Fuss.› Und dann das: Am Flughafen warteten vier Leute auf uns.»
Die erste offizielle WM der Geschichte (1991) ging an die USA. «Wir kehrten als Weltmeisterinnen zurück und dachten: ‹Jetzt fasst der Fussball auch in Amerika Fuss.› Und dann das: Am Flughafen warteten vier Leute auf uns.» Bild: Archiv
Vor einem Vierteljahrhundert erreichten Michelle Akers, Briana Scurry, Mia Hamm & Co. Legendenstatus im amerikanischen Fussball: Die US-Fussballerinnen kürten sich am 10. Juli 1999 zum zweiten Mal zu Weltmeisterinnen. 90’185 Leute waren aus dem Häuschen, als Carla Overbeck die schlanke Goldtrophäe gen Himmel hob, erläutert stgallen24-Fussballexpertin Simea Rüegg.

Aus sportlicher Sicht war der Sieg 1999 jedoch kein Wendepunkt, obwohl in der Zwischenzeit zwei weitere WM- und drei Olympia-Goldmedaillen dazukamen.

Ganz anders sieht es aus in Bezug auf die Stellung des gesamten Frauensports in den USA. Fussball wurde eine der Lieblingssportarten der Mädchen im ganzen Land, und die WM-Spielerinnen wurden eines der beliebtesten Teams der amerikanischen Sportwelt.

Let’s go big

Vor der Jahrtausendwende stand die dritte offizielle WM an, ein Turnier mit bis zu diesem Zeitpunkt kurzer Geschichte und wenig Erfolg. Gastgeberin USA selektionierte kleine Stadien an der Ostküste als Spielorte, um Reisekosten und grosse, leere Arenen zu vermeiden.

Die Spielerinnen des amerikanischen Nationalteams waren damit nicht einverstanden. Mit ihrem WM-Titel 1991, ihrem Olympiasieg 1996 und dem 1999er-Turnierslogan «Das ist mein Spiel. Das ist meine Zukunft. Schau mir beim Spielen zu.» hielten sie dagegen, bis ihnen der Verband schliesslich vertraute. Die Tür zum grössten Frauensportevent seiner Zeit stand offen.

Turnierpräsidentin Marla Messing stellte einen Marketingplan auf die Beine. Ausschlaggebend für den wegweisenden Fussabdruck, den die WM ’99 hinterlassen würde, war die Wahl der demographischen Zielgruppe. Anstelle auf der konzentrierten, kleinen Gruppe bestehender Fussballfans – die schönste Nebensache der Welt ist in Amerika eben bloss eine Randsportart – lag der Fokus auf dem familienorientierten Markt.

«We were very dedicated to getting butts in seats.»
(Wir waren entschlossen, Hintern ins Stadion zu bringen.) Mittelfeldspielerin und Co-Captain Julie Foudy

«Lass mich dir etwas über die Frauen-WM erzählen»

Ab 1998 wurde die WM pausenlos angepriesen. Die Spielerinnen legten sich an vorderster Front selbst ins Zeug. Sie waren überall, engagierten sich an Werbeständen, beglückten Kinder mit Fotos oder Autogrammen und gingen von Haustür zu Haustür, um «ihre» Frauen-WM vorzustellen. So konnten sich die Fans nahe mit den Fussballerinnen verbinden. Schritt für Schritt erarbeitete sich das US-Team seine Fangemeinschaft.

Die Spielerinnen vermieden es bewusst, über die Massenmedien zu werben. Immerhin hatten diese sie bis anhin ignoriert. Letztendlich nahm die Presse diese Gruppe von jungen Frauen, die Amerika repräsentierte, doch wahr. Das gab den kommerziellen Vorbereitungen auf die WM einen Schub, zumal Unternehmensgrössen wie McDonalds, Gillette und Coca-Cola einstiegen und das Turnier mitfinanzierten.

Schon bald wimmelte es im Fernsehen nur so von Werbespots, die das Siegel «Stolzer Unterstützer der Frauen-Weltmeisterschaft» zierten und in denen Mia Hamm, Julie Foudy, Michelle Akers oder Kristine Lilly gleich selbst auftraten:

Verteidigerin Brandi Chastain gastierte gar in einer Talkshow. Daraufhin wünschte der Moderator David Schwimmer in jeder weiteren Sendung den «Girls» viel Glück und brachte so die WM endgültig auf den Radar des amerikanischen Volkes. Auch die Fifa engagierte sich. Sie organisierte Geschäftsevents wie das Frauenfussball-Symposium.

Rekordkulissen und Kneif-mich-mal-Momente

Der monströse Marketingaufwand trug Früchte. Trainingseinheiten des Nationalteams hatten mehr Zuschauer als zuvor ihre Länderspiele und die Ticketverkäufe schossen in die Höhe. Innerhalb von 18 Monaten waren im April 1999 300’000 Billette weg, zwei Monate später eine halbe Million.

Die Fussballerinnen konnten es kaum fassen, als die Leute wirklich in Scharen zu den Spielen erschienen: 78’000 Fans bei der Eröffnung und 134’000 bei den ersten acht Partien toppten sämtliche Zuschauerrekorde bisheriger Weltmeisterschaften – und die K.O.-Runde hatte noch nicht einmal begonnen. Zum Vergleich: In Schweden lag der Publikumsschnitt bei 4’500.

«Auf der Fahrt zum Stadion steckten wir im Verkehr fest. Und wir waren der Grund für diesen Stau.»
Stürmerin Mia Hamm erinnert sich an das erste Gruppenspiel '99

Die USA spielten sich an die Spitze ihrer Gruppe, schoss sich in die Herzen Tausender Fans und entschied in einem packenden Final den Titel für sich. Insgesamt kamen 660’000 Zuschauer, 2’500 Presseleute und allein in Amerika schauten 40 Millionen Leute die Liveübertragungen der 32 WM-Spiele. Dazu gab es mehrere Dokumentationen und WM-Spezialprogramme. Sogar die Basketballliga, das grösste Frauensportprogramm des Landes, machte mit Spielverschiebungen dem Fussball Platz.

Verteidigerin Brandi Chastains Jubel ging um die Welt, nachdem sie den letzten Penalty gegen China im vollgepackten Rose Bowl versenkt hatte. Bild: Archiv

Anomalie oder Pionierinnen?

Der Erfolg des Turniers war überragend. Die Fussballerinnen erfüllten und übertrafen ihre Vorreiterrolle. Sie wurden wie Superstars bejubelt und die Nation feuerte sie an. Mädchen wie Jungen trugen Mia Hamms Namen auf ihrem Rücken und rot-blau-weisse Zeichnungen im Gesicht. Vaterlandstolz und Bewunderung für die Sportlerinnen rückten spürbar in den Vordergrund, das Geschlecht der Akteurinnen in den Hintergrund. Das war zu dieser Zeit keineswegs selbstverständlich.

«Wir wollten gewinnen und wir wollten attraktiv gewinnen. Wir verkauften unser Spiel», erklärte Stürmerin Mia Hamm ihren Blick über die WM 1999 hinaus. Und tatsächlich kreierten die Amerikanerinnen mit ihren zehn Dollar Taschengeld pro Tag eine Zukunft für die nächsten Generationen.

Während die Föderation nach dem Finaltag ein Häkchen hinter das Projekt «WM ‘99» setzte, ging es in den Köpfen der Fussballerinnen weiter. Sie organisierten – aufgrund eines finanziellen Streits mit dem Verband – auf eigene Faust eine Siegestour durch die USA. Die Verbundenheit zur Fangemeinschaft und das Momentum der Popularität sollten langfristig aufrechterhalten werden.

Also folgte 2001 der Anpfiff zur ersten professionellen US-Frauenliga. Doch nach drei Saisons war wieder Schluss. 2007 wiederholte sich dieselbe Geschichte. Trotz des kommerziellen Triumphs der WM fehlten das Publikum und ein breiter Pool an Talenten. Erst der dritte, mit mehr Planung und Geld ausgestattete Versuch im Jahr 2012 gelang. Die National Women’s Super League (NWSL) ist bis heute ein gewinnbringendes Konstrukt.

Ein Katalysator von und für das Nationalteam

Als es bei der Liga haperte, blieb das Nationalteam weitgehend auf der Siegesspur. Nach den «99ers», dem Siegerteam von 1999, rückte die nächste, goldene Generation nach. Und danach folgte eine weitere.

«Wir wollten den jungen Mädchen, die auf dem Hausplatz in unseren Trikots Fussball spielen, zeigen: ‹Ihr könnt alles tun, was ihr wollt›», sagen die «99ers» über ihr geschichtsträchtiges Vermächtnis. «Für die Jungen ist jetzt nicht mehr die Frage ob, sondern wann.»

Filmtipp: «Copa 71»

Wer noch tiefer ins Thema eintauchen möchte, erhält Gelegenheit dazu: Bald erscheint mit «Copa 71» ein Dokumentarfilm über die längst vergessene, inoffizielle Frauen-Weltmeisterschaft in Mexiko. Über 110’000 Fans wohnten dem Turnier 1971 bei – während die Schweiz gerade für Frauen die Urnen öffnete. Der Film feiert am 8. März 2024, dem internationalen Frauentag, Premiere.

Der fif-a.blog von stgallen24-Fussballexpertin Simea Rüegg beschäftigt sich mit Frauen iFussball. Die aktive Spielerin (FC Frauenfeld) schreibt über «Spannendes von gestern, Interessantes von heute und Entwicklungen von morgen».

Das «a» im Titel stehe für vieles, so Rüegg: unter anderem für «Allgemeines zum Thema», für «Abseits des Rampenlichts» – oder schlicht und einfach für die weibliche Seite des Fussballs.

Simea Rüegg, fif-a.blog
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