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Stadt St.Gallen
03.04.2024
16.07.2024 14:30 Uhr

Kloster auf Zeit

Judith Hosennen ist ein Bewegungsmensch und sehr gerne zu Fuss unterwegs.
Judith Hosennen ist ein Bewegungsmensch und sehr gerne zu Fuss unterwegs. Bild: Judith Hosennen
Zwischen Ende April und Ende Mai lassen sich fünf Menschen für eine Woche in die Wiborada-Zelle an der St.Mangenkirche einschliessen. Eine dieser Inklusen ist Judith Hosennen. Im Interview mit stgallen24.ch spricht sie über eingeschränkte Bewegung, ihre Spiritualität und Berührungen mit dem Tod.

Judith Hosennen ist eigentlich eine sehr aktive Person. Sie ist gerne zu Fuss unterwegs. Auf einem Ausflug mit einer Wandergruppe war es denn auch, als Judith Hosennen erstmals genauer vom Wiborada-Projekt erfuhr.

«Eine gute Kollegin hat vor ein paar Jahren beim Projekt mitgemacht. Auf dieser Wanderung hat sie von dieser Woche geschwärmt und hat mich damit gepackt. Ich wollte das auch gerne machen. Und nun bin ich also tatsächlich dabei.»

Zur Ruhe kommen

Doch wie geht die bewegungsfreudige Judith Hosennen mit dem begrenzten Platz in der nur gerade zwölf Quadratmeter grossen Zelle um? «Ja, die Bewegung wird mir fehlen», sagt sie, «deshalb nehme ich auch meine Yoga-Matte mit. Da kann ich mich wenigstens ein bisschen körperlich betätigen.»

Und trotzdem soll das kein Hindernis sein für die 58-Jährige. «Ich habe Respekt vor der Stille, aber irgendwie reizt sie mich auch. Es tut mir gut, einmal zur Ruhe zu kommen und in der Stille zu meditieren und zu beten. Es fühlt sich so an wie in einem Kloster, aber eben nur auf Zeit.»

«Die Personen, die mich gut kennen, wissen, dass das Wiborada-Projekt zu mir passt», sagt Judith Hosennen. Bild: Judith Hosennen

Grosse Mystikerin

Dieser Wunsch war für Hosennen der Hauptgrund für die Teilnahme am Wiborada-Projekt. Nicht etwa Wiborada. Doch: «Seit ich mich auf die Woche vorbereite, lerne ich Wiborada immer besser kennen und meine Faszination für diese Frau wächst je länger je mehr.»

Besonders gefällt Hosennen die Aufmüpfigkeit Wiboradas. «In dieser Zeit gab es für Frauen zwei Möglichkeiten. Heirat oder Kloster. Und sie hat sich gegen beides gesträubt, weil es ihr einfach nicht entsprach. Für mich ist sie eine grosse Mystikerin, ebenbürtig mit Niklaus von Flüe und Franz von Assisi.»

Jesus und Buddhismus

Judith Hosennen ist sehr katholisch aufgewachsen, mittlerweile aber aus der Kirche ausgetreten. «Ich fühlte, dass die katholische Kirche nicht mehr das ist, was Jesus mal wollte. Deshalb habe ich diesen Schluss gezogen.» Als spirituell bezeichnet sich Hosennen jedoch immer noch. «Der Buddhismus fasziniert mich, aber Jesus ist nach wie vor sehr wichtig für mich.»

Zur Lektüre nimmt Hosennen in die Zelle denn auch einige Bücher des vietnamesischen buddhistischen Mönchs Thich Nhat Hanh mit. Im Zentrum seiner Lehre steht die Achtsamkeit, die Kunst, in jedem Moment «geistig präsent» zu sein und somit «voll und ganz in der Gegenwart» zu leben. Dabei hilft Hosennen auch das Zeichnen von Zentangles, freie Zeichnungen mit immer wiederkehrenden Mustern.

Wenn es etwas gibt, was Judith Hosennen nicht vermissen wird, sind es Handy und PC. Bild: Judith Hosennen

Sterbe- und Trauerbegleiterin

Für Judith Hosennen markiert das Wiborada-Projekt auch einen beruflichen Übergang. Nach 33 Jahren SBB und fünf Jahren bei der Transportstelle der SOB schliesst sie in diesem Jahr eine Ausbildung zur Sterbe- und Trauerbegleiterin ab.

«Ich habe mich 1996 von meinem damaligen Mann getrennt. Nach dieser Trennung habe ich selbst ein Trauerseminar gemacht, das für mich sehr heilsam war. Seitdem hatte ich immer im Hinterkopf, dass ich diese Ausbildung auch einmal mach wollte.»

Keine Berührungsängste mit dem Tod

Berührungsängste mit dem Tod hat die gebürtige Walliserin keine. «Ich verlor schon einige mir sehr nahestehende Menschen und durfte sie auch begleiten. Zudem wurden im Wallis, als ich Kind war, die Toten zuhause aufgebahrt.»

Für Hosennen steht zum Abschluss ihrer Ausbildung nun noch die Diplomarbeit an. Ob das Wiborada-Projekt einen Einfluss auf ihren zukünftigen beruflichen Werdegang haben wird, kann sie noch nicht sagen, aber: «Vielleicht kommt mir ja in dieser Woche eine Inspiration...»

stgallen24 begleitet alle fünf Inklusen bei ihrer Teilnahme am Wiborada-Projekt. Was hat die Personen zu ihrer Teilnahme motiviert? Wie ticken sie? Wie verbringen sie die Zeit in der Zelle? Wir stellen Ihnen die Teilnehmer genauer vor.

Jonas Schönenberger
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