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Stadt St.Gallen
06.03.2024
16.07.2024 14:31 Uhr

Die Seele «la bambele laa»

Hansruedi Felix war fast 20 Jahre lang Stadtpfarrer in St.Gallen und nun der zweite Inkluse beim Wiborada-Projekt 2024.
Hansruedi Felix war fast 20 Jahre lang Stadtpfarrer in St.Gallen und nun der zweite Inkluse beim Wiborada-Projekt 2024. Bild: Urs Bucher
Zwischen Ende April und Ende Mai lassen sich fünf Menschen für eine Woche in die Wiborada-Zelle an der St.Mangenkirche einschliessen. Einer dieser Inklusen ist Hansruedi Felix. Im Interview mit stgallen24.ch spricht er über das Atmen, Meinungsänderungen und Begegnungen mit der Seele.

Eine Woche in einer zwölf Quadratmeter grossen Holzzelle. Ganz alleine, ohne fliessendes Wasser, ohne elektronische Geräte, eingeschlossen. Was macht man da? «Atmen», ist die Antwort von Hansruedi Felix. Atmen? «Ja genau, einfach eine Woche da sein und atmen.»

Hansruedi Felix' Leben spielte sich über weite Strecken in grösseren Gemächern ab. Fast 20 Jahre lang war er Pfarrer der evangelisch-reformierten Kirche St.Laurenzen im Herzen der St.Galler Altstadt. Vor knapp zwei Jahren wurde er pensioniert.

Tiefer mit dem Atem verbunden sein

So bleibt dem 67-Jährigen nun Zeit für eigene Projekte. Das Wiborada-Projekt stand dabei nicht von Anfang an auf der To-do-Liste. «Als Pfarrer am Ort hatte ich mit dem Projekt natürlich selber zu tun. Ich fand es immer schon grossartig, konnte mir aber keinesfalls vorstellen da mitzumachen. Ohne mich, dachte ich.»

Jetzt habe er seine Meinung geändert. Behilflich war ihm das Atemtraining. «Ich glaube, in der Einsamkeit der Zelle kann ich noch tiefer mit meinem Atem und so auch mit mir selbst verbunden sein.» Das habe ihn schliesslich überzeugt, doch beim Wiborada-Projekt mitzumachen.

Hansruedi Felix sucht die Verbindung mit seinem Atem und sich selbst. Bild: Hansruedi Felix

Wiborada als grosses Vorbild

Nicht zuletzt ist Felix aber auch beeindruckt von der Person, der das ganze Projekt gewidmet ist: Wiborada. «Sie hat meine Seele immer sehr berührt. Ein wunderbarer Schatz in unseren Kirchen. Für mich war sie immer ein ganz grosses Vorbild.»

Am meisten beeindruckt ihn ihr Freiheitsdrang. «Als Frau hatte man zu dieser Zeit eigentlich die Wahl zwischen zwei Wegen. Entweder man heiratete oder man ging ins Kloster. Wiborada wollte frei sein.» In ihrer Zelle hatte sie zwei Fenster. Eines führte in die Kirche, eines nach draussen. «Diese doppelte Vernetzung charakterisiert Wiborada sehr gut», findet Hansruedi Felix, «einerseits tief verbunden im Gebet, andererseits offen für die Welt, die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten.»

Sich selbst und seiner Seele neu begegnen

Für Felix selbst bedeutet die Woche in der Zelle vor allem Entschleunigung. «Es ist wie in den Ferien. Ich werde einfach meine Seele la bambele laa. Und vielleicht begegne ich in dieser Zeit meiner Seele neu.» Diese Erfahrung machte er auch schon beim Meditieren. «Man lernt immer wieder etwas Neues dazu.»

Auf die Frage, ob er, der als Pfarrer viel mit Gott zu tun hatte, vielleicht auch diesem neu begegnen kann, antwortet Felix mit einem Zitat aus dem marokkanischen Sufismus: «Wer sich selbst kennenlernt, lernt auch Gott kennen. Ich habe seit meiner Pensionierung schon viele neue Dinge über mich entdeckt. Das wird sich in dieser Woche bestimmt fortsetzen.»

Begegnung mit inneren Dämonen

Hansruedi Felix hat aber auch Respekt vor der Woche. «Ich hoffe, dass ich nicht allzu vielen inneren Dämonen begegne. Vielleicht kommt da ein ganzes Heft an Aufgaben auf mich zu.» Zur Bewältigung dieser Aufgaben holt sich Felix auch Hilfe bei Meister Eckhart, einem mittelalterlichen Theologen und Philosophen. Ein Buch von ihm nimmt Hansruedi Felix mit in die Zelle.

Trotz des Respekts lässt er auch schwierige Momente auf sich zukommen. Sein Grundsatz: «Gott, gib mir nicht das, was ich will, sondern das, was du willst.» Ein Zitat von Niklaus von Flüe, auch bekannt als Bruder Klaus, dem Schutzpatron der Schweiz.

Auch auf schwierige Momente macht sich Hansruedi Felix gefasst. Bild: Hansruedi Felix

Menschliche Distanz

Etwas, was Hansruedi Felix vermissen wird, sind die zwischenmenschlichen Kontakte. «Körperliche Berührung, Umarmungen, zufällige Begegnungen auf der Strasse – das alles gibt es in der Zelle weniger.»

Gerade deshalb wird es für ihn wertvoll sein, wenn zweimal pro Tag das Fenster zur Stadt offensteht. «Ich freue mich sehr auf die Gespräche mit den Menschen. Ich erwarte, dass einige kommen werden, die Hilfe suchen, aber freue mich auch auf lichtvolle Begegnungen.»

Sohn nimmt Einschliessritual vor

Dem bewegungsfreudigen St.Galler wird aber bestimmt auch die mangelnde körperliche Betätigung zu schaffen machen. «Ich werde versuchen, mich so gut es geht in der Zelle zu bewegen. Für ein bisschen Tanzen reicht der Platz bestimmt», sagt er mit einem Lachen.

Am 3. Mai wird Hansruedi Felix in die Zelle einziehen. Die rituelle Einschliessung wird sein erwachsener Sohn vornehmen, zur Überraschung von Felix. «Als ich ihn gefragt habe, dachte ich erst, er findet das total doof. Aber er nimmt sich sogar extra frei für mich.» So wird sich dann die Tür hinter Hansruedi Felix schliessen und er wird alleine in der Zelle sein. Alleine mit seiner Seele und seinem Atem.

stgallen24 begleitet alle fünf Inklusen bei ihrer Teilnahme am Wiborada-Projekt. Was hat die Personen zu ihrer Teilnahme motiviert? Wie ticken sie? Wie verbringen sie die Zeit in der Zelle? Wir stellen Ihnen die Teilnehmer genauer vor.

Jonas Schönenberger
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