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Stadt St.Gallen
28.02.2024
16.07.2024 14:32 Uhr

«Ich bin ein Seelenmensch»

Inklusin Judith Bischof in der Schiffchuchi der Papeterie zum Schiff, wo sie viele Jahre gearbeitet hat.
Inklusin Judith Bischof in der Schiffchuchi der Papeterie zum Schiff, wo sie viele Jahre gearbeitet hat. Bild: Jonas Schönenberger
Zwischen Ende April und Ende Mai lassen sich fünf Menschen für eine Woche in die Wiborada-Zelle an der St.Mangenkirche einschliessen. Eine dieser Inklusen ist Judith Bischof. Im Interview mit stgallen24.ch spricht sie über Verbundenheit mit sich selbst, ihren Respekt vor den Übergängen und warum sie keine Erwartungen, sondern Hoffnungen hegt.

Angefangen hat alles in Schottland. Genauer gesagt auf den Hebriden, einer Inselgruppe im Westen von Schottland. Hier leben mehr Schafe als Menschen. Judith Bischof geniesst diese Einsamkeit: «Ich war sehr stark mit mir selbst verbunden und mir wurde richtiggehend bewusst, ich bin Teil dieses Universums.»

Beim Reisen «auf sich selbst zurückgeworfen werden»

Die St.Gallerin reist für ihr Leben gerne, auch alleine. Am liebsten verweilt sie im hohen Norden, sei es in Schottland, Norwegen oder Irland. Aber auch in der Sahara war sie schon. «Ich mag es, wenn ich so auf mich selbst zurückgeworfen werde, aber auch die Begegnungen mit den Menschen sind für mich sehr wertvoll. Und beim Wiborada-Projekt erlebe ich das im Kleinen.»

Vom Wiborada-Projekt hatte sie schon ganz zu Beginn gehört. Eine Kollegin von ihr war damals die seelsorgerische Begleiterin von Hildegard Aepli, Initiantin des Projekts und 2021 erste Inklusin in der Zelle. «Ich war mir lange nicht sicher, ob ich mir das zutraue. Aber ich bin dann tief in mich gegangen und da wurde mir klar: Doch, das ist etwas für mich.»

Auf der Fähre zwischen den Inseln der Äusseren Hebriden in Schottland: Auf dieser Reise fasste Judith Bischof den Entschluss, beim Wiborada-Projekt mitzumachen. Bild: Judith Bischof

Besuchern Empathie entegegenbringen

Die Teilnehmer beim Wiborada-Projekt verbringen die Woche in der Zelle hauptsächlich mit sich selbst. Nur zweimal pro Tag steht das Fenster zur Stadt offen. Dort ergeben sich oft interessante Gespräche mit Besuchern und Passanten. «Es werden sicher ein paar Herausforderungen kommen, aber ich hoffe, dass ich den Besuchern Empathie entgegenbringen kann.»

Ursprünglich hatte Judith Bischof eine KV-Ausbildung gemacht. Über mehrere Jahre hinweg hatte sie in der Papeterie zum Schiff an der Marktgasse gearbeitet. Heute arbeitet sie als Sachbearbeiterin im sozialen Bereich. Die Gespräche sind also so etwas wie ihre Spezialdisziplin. «Ich bin ein Seelenmensch», sagt sie dazu, «Erwartungen an diese Begegnungen habe ich aber keine.»

Keine Erwartungen – sondern Hoffnungen

Mit Erwartungen an die Woche ist sie im Allgemeinen vorsichtig. «Ich würde es nicht Erwartungen nennen, eher Hoffnungen.» So hofft Bischof beispielsweise, dass sie sich auf die Woche einlassen und ähnliche Erfahrungen machen kann, wie sie sie bereits auf ihren Reisen machen durfte. «Ich wünsche mir, dass ich ganz tief mit mir in Kontakt kommen kann.»

Mit in die Zelle kommen wird ein Schaffell von ihren Reisen durch Schottland und ein Bild vom Atlantik. «Das sorgt für etwas Weite in der engen Zelle.» Nicht fehlen darf zudem ein Kristall, der sie an eine verstorbene Person erinnert, die sehr wichtig war in ihrem Leben und ihr viel Kraft gegeben hatte. «In diesem Kristall spüre ich die Kraft immer noch.»

Begegnungen mit Menschen geben Judith Bischof viel Kraft. Bild: Judith Bischof

Starke Frauenfiguren

Zur Lektüre nimmt sie das Buch «Grosse Frauen der Bibel» mit. Frauen spielten in der Bibel und der Kirche seit jeher eine untergeordnete Rolle. Mit Ausnahmen. Eine dieser Ausnahmen ist Bischofs Namenspatin Judith. Diese ist eine von nur drei Frauen, denen in der Bibel ein Buch gewidmet ist. So soll sie die Juden einst aus einer Belagerung durch die Assyrer befreit haben, indem sie den Befehlshaber der feindlichen Truppen verführte und ihn anschliessend enthauptete.

Eine nicht ganz so blutige, aber nicht weniger starke Frauenfigur ist Wiborada. «Sie strahlt eine Kraft aus», findet Judith Bischof, «ich bin beeindruckt davon, wie sie sich nicht von anderen hat beeinflussen lassen und zeit ihres Lebens konsequent ihren eigenen Weg gegangen ist.» So ehrt es sie auch, dass sie die erste Bewohnerin der Zelle sein darf. «Dann ist irgendwie noch alles unverbraucht und rein.» Auch die Tatsache, dass während ihres Aufenthalts in der Zelle, am 2. Mai der Wiborada-Tag gefeiert wird, sei für sie ganz speziell. 

Emotionale Übergänge

Am meisten Respekt hat Judith Bischof vor den Übergängen. «Wenn ich dann eingeschlossen bin und mir dann bewusst wird, ich habe jetzt diese sieben Tage vor mir... Ich hoffe, ich werde da nicht ungeduldig.» Auch an das Aufschliessen der Zelle denkt Bischof. «Da stellt sich dann die Frage: Was hat diese Woche mit mir gemacht?» Es werde sicher ein emotionales Erlebnis, glaubt sie. «Ich nehme es nicht auf die leichte Schulter, ganz und gar nicht.»

Trotzdem ist die Vorfreude bei Judith Bischof gross. Sie empfindet es als eine grosse Ehre, bei diesem Projekt mitmachen zu dürfen. Auch wenn sie einige Dinge vermissen wird, wie sie mit einem Augenzwinkern verrät: «Der Schoggikuchen aus der Schiffchuchi wird mir fehlen.»

stgallen24 begleitet alle fünf Inklusen bei ihrer Teilnahme am Wiborada-Projekt. Was hat die Personen zu ihrer Teilnahme motiviert? Wie ticken sie? Wie verbringen sie die Zeit in der Zelle? Wir stellen Ihnen die Teilnehmer genauer vor.

Jonas Schönenberger
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