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Stadt St.Gallen
09.06.2025
06.06.2025 17:05 Uhr

«Wir müssen das Rad nicht neu erfinden – aber richtig nutzen»

Michael Liebi: «Wir können von den Erfahrungen anderer Länder profitieren»
Michael Liebi: «Wir können von den Erfahrungen anderer Länder profitieren» Bild: zVg
Im Interview erklärt OST-Dozent Michael Liebi, wie die Schweiz von niederländischen Beispielen im Veloverkehr lernen kann, weshalb das Velo mehr ist als nur ein Fortbewegungsmittel – und warum es mutige Entscheide braucht, um die Verkehrswende in Schwung zu bringen.

Mit dem kürzlich eröffneten Velotunnel verfügt die Stadt Zürich über ein Prestigeprojekt mit Vorbildcharakter. Trotz solcher Leuchttürme bleiben Velofahrer in der Schweiz im internationalen Vergleich noch vielerorts auf der Strecke.

Michael Liebi, Dozent für Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule, beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie die Velowende hierzulande gelingen kann. Er ist Co-Kursleiter des neuen CAS «Best Practice Veloverkehr», in dessen Rahmen die Teilnehmer auch eine Exkursion in die Niederlande unternehmen und dort beispielhafte Velonetze befahren.

Im Interview spricht Liebi darüber, was es braucht, damit die Bevölkerung vermehrt aufs Velo «umsteigt» – und was die Schweiz diesbezüglich von anderen lernen kann.

Michael Liebi, welche Länder oder Städte sind Pioniere in Sachen Veloinfrastruktur?
Eine herausragende Rolle nehmen die Niederlande ein. Seit den 1970er-Jahren wird dort die Veloinfrastruktur konsequent ausgebaut. Vorausgegangen ist die gesellschaftliche und politische Einsicht, dass lebenswerte Städte und Gemeinden weniger Autoverkehr und mehr Mobilität im menschlichen Massstab benötigen – also nachhaltige, sichere und gesunde Fortbewegungsformen. Die Vorbildwirkung bezieht sich deshalb nicht nur auf die Velowege an sich, sondern auch auf den Prozess dahinter. Nebst den Niederlanden ist auch Dänemark mit der führenden Velostadt Kopenhagen als positives Beispiel zu erwähnen. Die dortige Rushhour der Velofahrer ist beeindruckend.

Haben die Menschen in den Niederlanden oder in Dänemark einen anderen Bezug zum Velo als wir?
Faszinierend ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die Menschen dort das Velo in ihrem Alltag als Verkehrsmittel nutzen. Das muss auch bei uns das Ziel sein: Man sollte sich nicht den Kopf darüber zerbrechen müssen, welche Route die sicherste ist oder ob man den Kindern den Schulweg per Velo zumuten kann. In den Niederlanden und in Dänemark steigen alle Altersgruppen ganz natürlich aufs Velo. Das Velofahren ist dort auch nicht einem bestimmten gesellschaftlichen Milieu zugeordnet, sondern quer durch alle Bevölkerungsschichten verbreitet.

Könnte das irgendwann auch in der Schweiz der Fall sein, wenn die Infrastruktur stimmt?
Davon sind viele Fachleute überzeugt. Die Studienlage ist klar: Wo gut gebaute Infrastrukturen vorhanden sind und diese – wo nötig – vom Autoverkehr getrennt werden, benutzen breite Bevölkerungskreise das Velo. Eine unsichere Veloführung, beispielsweise mit schmalen Radstreifen auf stark befahrenen Strassen, nutzen hingegen nur wenige, geübte Velofahrer.

Wo liegen die grössten Hürden für den Ausbau der Veloinfrastruktur in der Schweiz – politisch, gesellschaftlich oder auch technisch?
Eine Wende zu mehr Veloverkehr braucht es in allen drei Dimensionen. Im neuen CAS «Best Practice Veloverkehr» geht es deshalb nebst der Umsetzung der Infrastruktur und der Sensibilisierung der Nutzer auch um die Frage, wie wir uns organisieren müssen, damit die Veloförderung gelingt. Ein wichtiger Faktor ist der Einbezug der Bevölkerung. Wir müssen die Bedürfnisse der Menschen kennen und dann auch auf deren Alltagsexpertise aufbauen. Eine zentrale Rolle nehmen auch NGOs wie Pro Velo ein, die die Anliegen bündeln und vertreten können. Im Kurs behandeln wir den ganzen Prozess, den es für eine erfolgreiche Velowende braucht. Die grösste Hürde liegt also in der Bewusstseinsbildung. Auch hier zeigen uns die Niederlande, dass diese möglich ist.

Michael Liebi Bild: zVg

Sie sind Mitautor des Buches «Velowende». Kann man in der Schweiz bereits von einer Velowende sprechen – und ist das Bekenntnis der Bevölkerung dazu wirklich vorhanden?
Die Schweizer Bevölkerung will den Ausbau der Veloinfrastruktur: Der Bundesbeschluss Velo, aus dem das Veloweggesetz hervorging, wurde 2018 mit 74 Prozent und von allen Ständen angenommen. Auch die Bevölkerung in den Schweizer Städten hat sich wiederholt und deutlich für mehr Veloinfrastruktur und nachhaltigere Lebensräume ausgesprochen. Uns Planern kommt die Aufgabe zu, zukunftsgerichtete und umsetzungsorientierte Konzepte zu entwickeln. Und die Politik hat die Aufgabe, die klar benannten Ziele bezüglich Mobilität auch ernsthaft zu realisieren. Die Menschen in den Schweizer Städten setzen die Velowende durchaus selbst schon um; ein Blick in den Feierabendverkehr in Zürich, Winterthur oder Bern zeigt dies schön auf. Leider ist die Infrastruktur vielerorts noch weit davon entfernt, sicher zu sein.

In Zürich ist vor wenigen Tagen ein neuer Velotunnel eröffnet worden. Fast gleichzeitig forderten Politiker andernorts, man solle bei der Veloinfrastruktur sparen – etwa bei Veloprojekten in der Stadt St.Gallen oder bei der geplanten Veloquerung durch den alten Posttunnel am Bahnhof Wil. Muss das Velo immer wieder um Akzeptanz kämpfen?
Verkehrsplanung ist eine öffentliche und damit politische Angelegenheit. Und Veloprojekte stellen oft den Status quo in Frage, weil dafür Raum neu verteilt werden muss. Veränderungen herbeizuführen ist immer schwieriger, als den Bestand zu verteidigen. Es braucht das andauernde Engagement aller interessierten Akteure. Aber das gilt bekanntermassen nicht nur fürs Velo.

Was spielt das Auto in der ganzen Diskussion für eine Rolle?
Der Autoverkehr prägt bewusst und unbewusst unser Denken und Handeln. Oft wird vom Verkehr gesprochen – gemeint ist dann aber nur der Autoverkehr. Die Dominanz des motorisierten Verkehrs ist für uns so selbstverständlich, dass wir uns die Alternativen oft gar nicht mehr vorstellen können. Selbst kleine Quartierstrassen dienen heute fast ausschliesslich dem Durchfahren und Parkieren von Autos, während andere Nutzungen wie das Spielen auf der Strasse auf eingezäunte Spielplätze verbannt werden, weil es als zu gefährlich und störend empfunden wird. Historisch gesehen ist diese Monofunktionalität der Strassen jedoch recht neu. Strassen, Wege und öffentliche Plätze hatten eigentlich immer verschiedene Zwecke zu erfüllen. Bei weniger und langsameren Autos wäre das auch heute möglich. Ein weiteres Beispiel für die Dominanz des Autoverkehrs ist die Aussage, dass die Strasse zu eng sei für bessere Velowege – gleichzeitig werden mehrere Fahrstreifen für Autos oder lange Parkplatzreihen nicht hinterfragt.

Im Rahmen der Weiterbildung CAS «Best Practice Veloverkehr» unternehmen die Teilnehmer eine Exkursion in die Niederlande, wo sie beispielhafte Velowege befahren. Wie kann das Wissen aus dieser Exkursion konkret in Schweizer Projekte oder Planungen einfliessen?
Niederländische Fachpersonen werden uns Infrastrukturlösungen wie Velostrassen oder geschützte Kreuzungen, aber auch die Geschichte der Veloplanung in den Niederlanden vor Ort vertieft erklären. Mittels Diskussionen und Übungsbeispielen werden wir eine Umsetzung in die Schweiz erarbeiten. Das dritte Kursmodul wird zusammen mit drei Partnerstädten durchgeführt: In Bern, Basel und Chur können die Kursteilnehmer die Erkenntnisse direkt anwenden, mit Vertretern der Städte diskutieren und sich austauschen.

Die Niederlande und die Schweiz unterscheiden sich – sei es kulturell oder topografisch. Sind Lösungen, die in anderen Ländern erfolgreich sind, überhaupt übertragbar?
Wir können von den Erfahrungen anderer Länder definitiv profitieren und müssen das Rad sprichwörtlich nicht neu erfinden. Lösungen aus anderen Kontexten müssen aber immer auch adaptiert werden, das ist klar. Unser neuer Kurs ist deshalb so aufgebaut, dass wir einerseits Inspirationen aus anderen Ländern vermitteln, aber immer auch eine Einordnung im Schweizer Kontext vornehmen. Die Teilnehmer sollen konkrete Ideen und Ansätze kennenlernen, wie internationale Best-Practice-Beispiele hierzulande umgesetzt werden könnten.

Der CAS fokussiert auf Planungskonzepte für den Veloverkehr. Inwiefern kommt die Veloförderung auch allen anderen Verkehrsteilnehmerzugute?
Eine lebenswerte, gesunde und nachhaltige Stadt kann nur gelingen, wenn alle Verkehrsmittel integral mitgedacht werden. Verkehrsberuhigte Stadtzentren und Wohnquartiere dienen in erster Linie dem Fussverkehr, dem Aufenthalt oder dem Spiel auf der Strasse. Die Förderung des Veloverkehrs ist eines der wirkungsvollsten Mittel, um die Nachhaltigkeitsziele im Verkehr zu erreichen, da die Infrastruktur flächeneffizient sowie vergleichsweise günstig und schnell realisierbar ist. Velowende ist Verkehrswende für Macher. Das motiviert uns auch für den neuen Kurs.

ua/stz.
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