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Stadt St.Gallen
30.03.2025
26.03.2025 10:01 Uhr

Wo (und wie) die Stadt sich traf

Das «Uhler» an an der heutigen Bogenstrasse
Das «Uhler» an an der heutigen Bogenstrasse Bild: Stadtarchive St.Gallen
Heute wird das Aussterben traditioneller Gasthäuser beklagt – vor rund 100 Jahren versuchte man, es absichtlich herbeizuführen, zeigt ein Blick in die St.Galler Stadtgeschichte von Oliver Ittensohn.

Mit der boomenden Stickereiindustrie trafen in der Stadt St.Gallen an der Wende zum 20. Jahrhundert zwei Zutaten aufeinander, die ein explosives Gemisch – respektive einen einschlagenden Drink – ergaben. Auf der einen Seite standen die bürgerlichen Fabrikherren. Sie führten ihr Leben nach einem sauber austarierten Tugend- und Wertesystem – zumindest in der Theorie.

Sie unterschieden zwischen öffentlichem und privatem Raum: Der öffentliche Bereich war die Sphäre des Mannes und der geregelten Arbeit, der private Raum das eigene Zuhause mit der verantwortungsvollen Ehefrau. Für die schnell wachsende Arbeiterschaft hatte diese Raumtrennung kaum Bedeutung.

Bild: Stadtarchive St.Gallen

In den engen Wohnungen der Agglomerationsquartiere liess sich diese Trennung ohnehin nicht leben. Die Ehefrau unterstützte den Mann bei der Arbeit, die Kinder spielten auf der Strasse, und man traf sich nicht zu Hause im bürgerlichen Salon, sondern – eben – in Wirtshäusern. Am Stammtisch wurde philosophiert, politisiert, über den Fabrikherrn geschimpft, moralische Fehltritte gestanden und das Feierabendbier genossen.

Das Verschwinden dieser Form der Solidarität wird heute kritisch gesehen – der bürgerlichen Schicht um 1900 war sie ein Gräuel. Wirtshausgespräche führten zu nachbarschaftlicher Gruppenbildung und politischen Umstürzen. Vor allem aber gehörten die Erholung und Freizeit des Mannes in die Intimsphäre der eigenen Wohnung – nicht ins Wirtshaus.

Die vielen männlichen Besucher der Lokale und das «Herumlungern» auf der Strasse deuteten sie als Folge eines ungesunden Heimes. Menschen, so die Annahme, die sich zu Hause wohlfühlen, gehen nicht ins Wirtshaus. So war auch für den Wohnreformer Paul Pflüger die «freundliche Häuslichkeit» ein zentrales Anliegen. Ungesundes Wohnen führe zu vermehrtem Wirtshausbesuch, zur Zerrüttung der Familie und schliesslich zu Streit, Trennung und Alkoholismus:

«Was Wunder, wenn da der von der Arbeit heimkehrende Familienvater der von üblen Düften geschwängerten Behausung so schnell als möglich den Rücken kehrt und seine Erholung von des Tages Arbeit in grösseren, erleuchteten Unterhaltungslokalen sucht. Wie mancher wird so zum ständigen Stammgast des Wirtshauses und zum Gewohnheitstrinker, weil ihm ein freundliches, geräumiges Heim mangelt.»

Diese Art der Kritik war nicht neu. In der Stadt St.Gallen galten spätestens seit der Reformation strenge Auflagen fürs abendliche Ausgehen. Tanzen, Wetten, Trinken oder Kartenspielen waren durch sogenannte Mandate geregelt – und oft verboten.

Gleichzeitig erfüllten Wirtshäuser als Stammlokale von Vereinen wichtige gesellschaftliche Funktionen. Bis 1914 sind über 700 Vereine in der Stadt überliefert – sie waren hochwillkommen, und die Wirte zeigten sich entsprechend innovativ.

Ein beliebtes Vereinslokal war das Trischli an der Brühlgasse 15. Zwischen 1880 und 1899 hatten dort unter anderem die Stadtsänger, die Naturwissenschaftliche Gesellschaft und der Zither-Club ihre Stammtische.

Bild: Stadtarchive St.Gallen

Wenn ein Saalanbau vorhanden war, wurden Hauptversammlungen und Abendunterhaltungen möglichst dort durchgeführt. Doch die Vereine hatten die Wahl. Das Thema Stammbeiz taucht beim FC St.Gallen im 19. Jahrhundert praktisch jährlich im Jahresbericht auf.

Viele Vereine wechselten regelmässig das Stammlokal – etwa weil der Wirt nicht spendabel genug war oder ein anderes Lokal besseres Bier versprach. Um dem grossen Konkurrenzdruck zu begegnen, setzten viele Wirte auf zusätzliche Attraktionen: Unterhaltungsprogramme musikalischer oder artistischer Art in ihren Sälen.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden solche Veranstaltungen in Zeitungsinseraten und Adressbüchern beworben. Und bis vor kurzem gab es noch «legendäre» Säle mit Platz für mehrere Hundert Personen: Uhler, Schützengarten, St.Leonhard, Ekkehard.

Ein Blick hinter die Kulissen

Nächtliche Feuersbrunst

Am Abend des 2. Januar 1914 brennt der 40 Meter lange Dachstock des Hospiz Johannes Kessler an der Teufenerstrasse 4. Ein schlechtes Omen für den Christlichen Verein junger Männer (CVJM)? Nur drei Jahre zuvor war das Gebäude im Auftrag dieses Vereins als das höchste der Umgebung errichtet worden. Schon der Bau verlief nicht problemlos – es kam zu Konflikten mit der Baukommission, das Bezirksgericht und die Regierung mussten beigezogen werden.

Das Hospiz Johannes Kessler Bild: Stadtarchive St.Gallen

Am 2. Juli 1911 wurde das Gebäude dennoch feierlich eröffnet: Vereinsmitglieder marschierten mit wehender Fahne zur Teufenerstrasse. Der Gebäudekomplex war imposant, die Fassade reich verziert, der spitze Gebäudeturm mit einer hölzernen Kuppel bekrönt – die drei Jahre später in Flammen aufging. Drei bis vier Stunden dauerten die Löscharbeiten. Von der Kuppel, dem Dachstock und dem fünften Stock blieben nur rauchende Ruinen. Acht Tage später brach erneut ein Feuer aus, diesmal im Untergeschoss. Es konnte frühzeitig gelöscht werden. Erst Jahre später gestand der ehemalige Koch des Hauses die beiden Brände. Seither ist der Dachstock in Metallkonstruktion ausgeführt – und steht bis heute.

Ein Gang durchs Hospiz

Das Hospiz Johannes Kessler war als Vereinslokal, Restaurant und Unterkunft geplant. Der Haupteingang lag an der Teufenerstrasse. Rechts lagen die Vereinsbüros, links das Restaurant mit Damensalon und Gesellschaftsraum. Serviert wurde gutbürgerliche Küche. Über eine Treppe gelangte man ins Untergeschoss, wo sich die Vereinsmitglieder zu Versammlungen und Lesezirkeln trafen.

Bild: Stadtarchive St.Gallen

Im ersten Stock befanden sich kleine Tische mit Lesestoff und ein grosser Festsaal für 300 Personen. Die Sitzungsräume hiessen «Vadianzimmer» und «Kesslerzimmer». Die oberen drei Stockwerke waren Hotelzimmer.

Eine illustre Gesellschaft

Im Hospiz logierten Bankangestellte und Studenten – aber auch Frauen. Bereits im ersten Jahr wohnte Emma Fehrlin im obersten Stock. In den 1910er Jahren wohnten eine Telegrafistin, eine Sprachlehrerin und eine Zeichnerin im Gebäude. In den 1920er Jahren – gegenüber befand sich zeitweise die amerikanische Botschaft – wohnten dort auch Diplomaten wie die US-Vizekonsule Robert Barry Bigelow und Marc Greene. Später Rechtsanwälte, ein Zahnarzt, eine Schauspielerin, eine Violinistin, eine Apothekerin, ein Chemiker. Ob es Austausch gab zwischen diesen Mietern, dem Verein und den Restaurantgästen, ist nicht überliefert.

Das «Vestibule» (Vorhalle, Entrée) im Kessler Bild: Stadtarchive St.Gallen

Spezielle Erwähnung verdient Prof. Dr. Adolf Rietmann. Von 1922 bis 1962 – rund 40 Jahre – war er ständiger Bewohner des Hospizes und damit sein treuester Mieter. In dieser Zeit unterrichtete er an der Handelsschule des Kaufmännischen Vereins und wurde deren stellvertretender Rektor. Danach verliert sich seine Spur.

Ab 1949 wurde das Hospiz zunehmend als Hotel betrieben. Fortan wohnten vor allem Angestellte des Hauses dort: Köche, Portiers, Hausangestellte und Buffetdamen. Bis 1971 blieb das Hospiz im Besitz des CVJM. Danach ging es an die Schweizerische Volksbank über und beherbergte später unter anderem die Pro Senectute, ein Tanzzentrum und eine Kunstgalerie.

Oliver Ittensohn
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