Home Region Sport Magazin Schweiz/Ausland Agenda
Stadt St.Gallen
12.01.2025
07.01.2025 11:43 Uhr

Kinderspiele auf dem Klosterplatz

Liana Ruckstuhl
Liana Ruckstuhl Bild: zVg
Die Gymnasiallehrerin und ehemalige Stadträtin Liana Ruckstuhl erinnert sich an ihre Kindheit an der Multergasse.

In meiner eigenen Kindheit im Obertoggenburg der 1970er-Jahre galt die St.Galler Multergasse bereits als Einkaufsmeile – nicht so vornehm wie die Zürcher Bahnhofstrasse, aber mit akzeptablen Preisen und einer grossen Auswahl an Konsumgütern.

Rund zwanzig Jahre früher war Liana Ruckstuhl, Tochter eines einfachen Posamenters, an der Multergasse 10 aufgewachsen. In ihren packend geschriebenen, lebenswarmen Kindheitserinnerungen entführt uns die sprachgewandte Autorin, eine studierte Germanistin, in eine in manchen Belangen fremd gewordene, aber faszinierende Lebenswelt.

Im Haus Multergasse 10 war in den 1950er-Jahren das Mercerie- und Stoffgeschäft Wappler-Friderich untergebracht Bild: Archiv Steccanella

Damals, um 1955, spielten noch Dutzende von Kindern am und um den Klosterplatz. Heutzutage wächst kein einziges Kind mehr in der Multergasse auf. Dazumal gab es viele kleine Läden und Geschäfte an der Multergasse, darunter nicht weniger als vier Metzgereien und drei Bäckereien. Heutzutage dominieren Mobilfunkshops von Sunrise oder Swisscom die einst so stolze Einkaufsmeile St.Gallens.

Die alten Geschäfte und Warenhäuser wie Globus boten den einheimischen Kindern manche grössere und kleinere Vergnügen: Man bestaunte die Auslagen in den Schaufenstern, «liftelte» zum Ärger des Personals im Lift des Globus und rutschte dessen Treppengeländer unerlaubterweise hinunter, was auch einmal eine Ohrfeige zur Folge hatte. Fremde Erwachsene zögerten damals nicht, Kinder auch körperlich zu massregeln, wenn diese gegen Normen oder ungeschriebene Gesetze verstiessen.

Liana Ruckstuhl (links) und ihre Freundin Ruth werden am ersten Schultag Ende April 1951 auf dem Klosterplatz für das Familienfotoalbum abgelichtet Bild: Archiv Ruckstuhl

Auch sonst zeigten sich die «Multergässler» erfinderisch, wenn es um Spiel und Spass ging. «Räpplere» war ein Münzspiel, bei dem es darum ging, einen Einräppler möglichst nah an eine Mauer zu rollen. Zentrum des Plauschs war jedoch der wunderschöne, belebte Klosterplatz, der Treffpunkt der wilden Altstadttruppe. Diese lieferte sich manchmal sogar veritable Raufereien gegen andere Quartierkinder. Die Buben spielten am Klosterplatz beispielsweise Völkerball auf der «Bsetzi». Das Fussballspielen auf dem Rasen war ihnen wohl streng verboten worden.

Verschiedene «Originale» prägten das Stadtleben, Aussenseiter, die oft verspottet wurden, wie etwa die arme Hausiererin Ackermann. So bunt die Welt in den 1950er-Jahren auch sein konnte, so grausam war sie oft. Und es gab noch viele weitere Arme, auch unter den Schweizerinnen und Schweizern.

Insgesamt ist es der Autorin und Handwerkertochter Liana Ruckstuhl hervorragend gelungen, einen städtischen Mikrokosmos der 1950er-Jahre in den Fokus zu nehmen.

Ruckstuhl, Liana. Multergasse 10. Eine St.Galler Altstadtkindheit in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag 2021.

verlagshaus-schwellbrunn.ch

Liana Ruckstuhl, *1944, war nach ihrem Germanistikstudium Gymnasiallehrerin und gleichzeitig während vieler Jahre Theatermacherin – etwa als künstlerische Leiterin der Kellerbühne, wo sie selbst viele Male auftrat –, bevor sie «die Bühne wechselte» und Stadträtin wurde (FDP; 1995-2004).

Seit ihrer Pensionierung – Ruckstuhl lebt immer noch in St.Gallen, heute an der Schmiedgasse – ist sie als Autorin tätig. Von ihr erschienen neben den Typotron-Heften «Lokremise St.Gallen», «Albert Nufer», «Textilfirma Fischbacher St.Gallen» die Biografien von zwei St.Galler Persönlichkeiten: Ständerat Ernst Rüesch und «Stadionvater» Hans Hurni.

Dr. phil. Fabian Brändle, Historiker und Volksschriftsteller
Demnächst