Nach den eidgenössischen Wahlen im letzten Herbst und den Regierungs- und Parlamentswahlen im März gilt es jetzt nochmals ernst. Die Gemeinden und damit auch die Stadt St.Gallen wählen das politische Personal für die nächsten vier Jahre.
In der Stadt bewerben sich 384 Kandidatinnen und Kandidaten auf 15 Listen um einen der 63 Sitze im Waaghaus. Wählerinnen und Wähler haben die Auswahl – je nach Standpunkt die Qual der Wahl.
Respekt all jenen, die sich durch den Kopfsalat auf den 15 Listen kämpfen, ohne dabei den Überblick zu verlieren.
Weniger aufwändig sind die Stadtratswahlen. Hier treten die fünf Bisherigen an. Drei Herausforderer sorgen zumindest für etwas Spannung.
Der Stadtrat verdient die Note … In Bundesbern hat sich die Unsitte eingeschlichen, Bundesrätinnen und Bundesräte regelmässig auf einer Beliebtheitsskala zu bewerten. Bundesrat Jans – erst im Dezember gewählt – ist derzeit auf Platz 1. Auf Platz 2 folgt Bundesrat Rösti. Die übrigen fünf Regierungsmitglieder werden auf dieser Skala als «ungenügend» bewertet.
Solche Umfragen sind zufällig und oberflächlich und sagen nichts über die substantielle Arbeit aus. Es geht aber weder im Bundesrat noch im Stadtrat um Miss- oder Mister-Wahlen. Natürlich darf und soll man amtierende Exekutivpolitiker beurteilen, aber die Wählenden sollen sich bitte selbst ein Urteil bilden – unabhängig von Tagesstimmung oder medialer Begleitmusik.
Jede Beurteilung wird je nach politischem Standpunkt oder persönlichem Erfahrungshorizont unterschiedlich ausfallen. Entschieden wird an der Urne und nicht in Umfragen. Und das ist auch gut so.
Beliebtheitsratings kennt man zumindest bis heute in St.Gallen nicht. Will man die Leistung des Stadtrates in globo beurteilen, so bleibt einzig die Aussenwahrnehmung. Und diese ist halt schon typisch für St.Gallen: Die Exekutive präsentiert sich brav, beschaulich und betulich.
Ja nichts überstürzen oder gar riskieren, keine grossen Würfe. Ein Stadtrat mit angezogener Handbremse.
Man entwirft Pläne und Konzepte, setzt Arbeitsgruppen ein. Dann hört man lange nichts mehr. So erledigt sich die Sache von selbst, geht vergessen und verschwindet irgendwo in einer Schublade.
Zugegeben: Die letzten Jahre waren nicht einfach. Corona und der Krieg in der Ukraine haben viele Pläne durchkreuzt. Dazu kommt der finanziell enge Spielraum der Stadt. Und hier gilt, was auf Stufe Bund Bundesrätin Keller-Sutter immer wieder betont: «Wir haben kein Einnahmenproblem, sondern ein Ausgabenproblem.»
Im Klartext: St.Gallen lebt seit geraumer Zeit über die Verhältnisse und ist steuerlich unattraktiv.
Daran hat sich bis heute trotz kleiner Retouchen am Steuerfuss nichts geändert. Dieses strukturelle Defizit lässt sich allein auch mit höheren Abgeltungen aus dem Finanzausgleich nicht einfach aus der Welt schaffen.
Legislaturziele – so what? Zu Beginn der Legislatur hat der Stadtrat seine Ziele präsentiert. Eine Auslegeordnung über die künftigen Herausforderungen: «St.Gallen ist als lebenswerte, weltoffene, ökologische und innovative Stadt das wirtschaftliche, kulturelle und gesellschaftliche Zentrum der Ostschweiz» (Legislaturziele 2021-2024).
Niemand wird dem widersprechen wollen. Viele Ziele, Aufträge für Projektstudien, Konzepte und Planungen finden sich in den Unterlagen. Aber so richtig Fahrt aufgenommen haben all die Ideen bis heute nicht.
Beispiel Marktplatz: «Die Umsetzung der Strassen- und Platzgestaltung Marktplatz und Bohl ist in Abstimmung mit dem geplanten Neubau der Kantons- und Stadtbibliothek weit fortgeschritten» (Legislaturziele 2021-2024).
Und wo stehen wir heute? Die Marktplatz-Sanierung ist ein Zeichen dafür, wie schwer sich St.Gallen tut, Projekte zu planen und in vernünftiger Zeit zu realisieren. Irgendwo ist Sand im Getriebe oder fehlt es schlicht an politischer Führung und Durchsetzungskraft?
Wer soll St.Gallen die nächsten Jahre regieren?
Auf den ersten Blick verspricht die Ausgangslage wenig Spannung. Denn die bisherigen fünf treten nochmals an. Die Kandidaturen von Cem Kirmizitoprak (parteiunabhängig) und Robin Eichmann (Juso) sind chancenlos.
Ernster zu nehmen ist die Kandidatur von Patrik Angehrn (Mitte). Die Mitte will damit ihren 2017 verlorenen Sitz zurückholen. Angehrns Botschaft: «Der Stadtrat sei in der laufenden Legislatur zu wenig spürbar. Der Wille, Herausforderungen anzupacken, fehle, und es mangle an Führungsstärke. Der Stadtrat müsse die Verwaltung führen und nicht umgekehrt.» (Tagblatt, 16.5.24)
Damit zielt Angehrn nicht konkret auf ein amtierendes Mitglied der Stadtregierung.
Unausgesprochen ist aber klar: Die Pannen-, Pech- und Pleite-Serie in verschiedenen Bereichen der städtischen Politik hinterlässt bei vielen Bürgerinnen und Bürgern einen schalen Nachgeschmack.
Beispiel Spitex: Zu lange hat man hier nicht eingegriffen, und von Führungsverantwortung war nichts zu spüren. Beispiel Busdepot: Wie schafft man es, ein Projekt aufzugleisen, das den finanziellen Budgetrahmen um das Mehrfache sprengt?
Am Schluss blieb nur noch ein Übungsabbruch, weil über mehrere Jahre hinweg bei der Planung niemand den Überblick hatte. Auch die Endlosbaustelle am Marktplatz ist kein Meisterstück städtischer Planung.
Und bereits steht mit dem Bau der neuen Bibliothek ein weiteres Projekt in der Kritik: Auch hier könnten die Kosten aus dem Ruder laufen.
Zwar hat hier der Kanton den Lead, aber die Stadt trägt einen beträchtlichen Teil der Bau- und Betriebskosten. Will man hier in der Volksabstimmung keine Bruchlandung riskieren, muss das Projekt deutlich abgespeckt werden.
Was hat dies alles mit der Kandidatur der Mitte zu tun?
Die Mitte könnte mit ihrer Kandidatur das Stimmenpotential all jener Bürgerinnen und Bürger mobilisieren, die mit der städtischen Politik aus unterschiedlichen Gründen nicht zufrieden sind. Schafft sie mit ihrer Kandidatur einen bürgerlichen Schulterschluss, ist zumindest aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen, dass nicht alle Bisherigen das absolute Mehr auf Anhieb erreichen.
Das allein wäre aus taktischen Überlegungen für die Mitte auch mit Blick auf spätere Vakanzen eine gute Ausgangslage, selbst wenn ihr Kandidat im zweiten Wahlgang gegenüber einer/m bisherigen Stadträtin/Stadtrat unterliegen würde.
Machen wir zum Schluss eine Auslegeordnung:
Maria Pappa und Peter Jans (beide SP) dürften ihre Wiederwahl problemlos schaffen. Maria Pappa ist auch als Stadtpräsidentin unbestritten. Sie ist präsent und fühlt sich sichtlich wohl in ihrer Funktion. Als Hüterin der Stadtfinanzen muss sie oft auch gegenüber ihrer Partei unbequem sein, wenn das Parlament Ausgaben tätigen will, welche weder zwingend noch dringend sind.
Auch Peter Jans ist mit seiner ruhigen und überlegten Arbeit ein sicherer Wert. Er dürfte wohl altersbedingt im Verlaufe der neuen Amtsperiode zurücktreten.
Matthias Gabathuler (FDP) stellt sich erstmals einer Wiederwahl. Als Mittelschullehrer ist er als Schulvorstand am richtigen Ort und dank seiner umsichtigen und kompetenten Arbeit unbestritten. Auch er dürfte dem Wahlsonntag gelassen entgegensehen.
Sonja Lüthi (GLP) und Markus Buschor (parteilos) müssen sich hingegen zumindest gedanklich damit abfinden, dass sie vielleicht in einem zweiten Wahlgang nochmals antreten müssen. Ein solches Szenario ist aus heutiger Sicht nicht ausgeschlossen – dann, wenn Patrik Angehrn über das eigene Mitte-Potential die Stimmen von FDP und SVP holen kann.
Entscheidend bleibt in allen Lagern die Mobilisierung.
Nicht zu unterschätzen sind die beiden eidgenössischen Vorlagen am 22. September (BVG-Revision, Biodiversität). Dies könnte zu einer höheren Wahlbeteiligung führen (Wahl 2020: 52 %). Es wäre ein gutes Zeichen für eine lebendige Demokratie, wenn die Beteiligung auch dieses Jahr über der 50 %-Marke läge.
Wie auch immer die alt-neue Regierung künftig zusammengesetzt sein wird: Mehr Power, Führungsstärke und Mut – dies täte dieser Stadt gut. So nach dem Motto: ein zugkräftiges Team, engagiert und initiativ, mehr Gestalten als Verwalten.