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Gast-Kommentar
Kanton
06.01.2024
06.01.2024 15:29 Uhr

Das Volk glaubt nichts mehr

Bild: Marina Lutz
Politiker sollten öfter in der Beiz sitzen. Das wäre Weiterbildung an der Basis. Denn was das Volk beschäftigt, lernt man nicht an Parteiveranstaltungen und Sitzungen.

«Das wird jetzt alles billiger!» Die aktuelle Ausgabe des «Blick» schreit es in etwa fünf Zentimeter hohen Buchstaben von der Titelseite. Der Mann, der gerade die Zeitung liest, legt sie grinsend zur Seite und schaut zu mir herüber. «Denen glaube ich kein Wort mehr», sagt er und greift zum Bier, ohne auf eine Antwort zu warten.

Ich kenne den Herrn nicht, er sitzt nur zufällig beim Feierabendbier in einer Beiz im Rheintal in meiner Nähe. Es war ihm dennoch ein Bedürfnis, sich mir mitzuteilen. Auch wenn er wohl ahnt, dass es nichts nützt. Denn er spricht ja nicht mit einem Bundesrat, einem Parlamentarier oder einem Gemeinderat, mit keinem, der etwas ändern könnte. Nur mit einem, der über sie alle schreibt.

Als der Mann gegangen ist, angle ich mir den «Blick», um nachzulesen, was hinter der frohen Botschaft steckt. Es geht um fallende Zölle für bestimmte Produkte, die in der Folge billiger werden sollen. Wer vor hat, in nächster Zeit reihenweise Velos oder Waschmaschinen zu kaufen, profitiert davon. Ich brauche weder das eine noch das andere. Alles, was ich weiss, ist, dass die Krankenkassenprämie gestiegen ist und in meiner Gemeinde wohl noch der eine oder andere Steuerschock wartet. Was jetzt «alles billiger» wird, ist also relativ. Die Frage ist, was unterm Strich für den Einzelnen auf dem Konto bleibt.

Privilegien für «die da oben»

Dem besagten Mann geht es wohl ähnlich. Er weiss, dass das, was er liest, dass das, was ihm Politiker versichern, mit der gelebten Realität selten etwas zu tun hat. Soeben hat der Bundesrat auf Kosten von uns Steuerzahlern allen seinen Mitgliedern einen über 4300 Franken teuren Dauer-Skipass gegönnt, für den er 60 Tage pro Jahr auf der Piste sein müsste, um ihn herauszuschlagen. Gleichzeitig will er die Witwenrente ab 2026 massiv einschränken, allerdings mit Ausnahme der Mitglieder des Bundesrats, des Bundesgerichts und der Bundeskanzlei. Dort sollen die Hinterbliebenen weiterhin bis ans Lebensende 142'000 pro Jahr garnieren.

Das Velo und die Waschmaschine werden für uns alle billiger. Besondere Privilegien hingegen werden nur denen an der Macht zuteil. Alles sind gleich, mindestens sieben von ihnen sind aber gleicher als die andern. Ab 2024 verdient ein Bundesrat über 470'000 Franken pro Jahr plus 30'000 Franken Spesen. Das sind 5000 Franken mehr als 2023, denn unsere Landesregierung hat sich gerade einen Teuerungsausgleich von einem Prozent gegönnt. Diese Lohnerhöhung würde übrigens perfekt für eine selbst bezahlte Jahreskarte für die Schweizer Skigebiete reichen. Aber darum geht es nicht. Man holt sich, was man kann.

Diese Politik füttert die Politikverdrossenheit der Menschen im Land, und hier in der Beiz wird sie offen ausgesprochen. Die Menschen sehen eine Schlagzeile, schütteln den Kopf, legen die Zeitung zur Seite und gehen zurück zur Arbeit, mit der sie mit Mühe und Not ihr Auskommen finden. Wieso sollen sie glauben, was sie lesen, wenn der Kontostand Ende Monat das Gegenteil sagt?

Bundesräte: Ab in die Beiz!

Solche Begegnungen wären eine wichtige Lektion für Entscheidungsträger. Aber wann sitzt ein Bundesrat schon jemals an einem Stammtisch im Rheintal und lässt sich erklären, wie das Leben für den ganz normalen Bürger ist? Ein solches Gespräch wäre sehr viel schwieriger als dasjenige mit dem Aussenminister von Uganda, wo es nur darum geht, eine von teuren PR-Beratern vorfabrizierte Rede wiederzugeben.

Das Problem ist das System. Mit ganz wenigen Ausnahmen sind es die ohnehin schon Privilegierten, die politische Mandate erringen. Sicherlich nicht nur Superreiche, aber Leute, die sich wenig Gedanken um das tägliche Überleben machen müssen und entsprechend Zeit und Energie haben, sich in einer Partei zu engagieren und Werbung in eigener Sache zu finanzieren. Sind sie dann gewählt, bewegen sie sich oft nur noch unter ihresgleichen. Ein Apéro hier, ein Fraktionsausflug dort, das Sitzungszimmer als zweite Heimat. Dabei wäre eine banale Stange in der Quartierbeiz so viel lehrreicher.

Man macht sich gerne lustig über Leute, die am Stammtisch über «die da oben» fluchen. Nur haben sie eben gute Gründe dafür. Mit dem Einstieg in die Politik verlieren sogar einstige Vereinsmeier schnell die Nähe zum Volk. Sie gehören jetzt einer anderen Kaste an. Und hört sich doch einer von ihnen mal an, was ein Bürger meint, gibt er vor, die Sorgen ernst zu nehmen, nur um diese einen Wimpernschlag später wieder vergessen zu haben. Denn es sind ja nicht seine eigenen Sorgen.

Die Schweiz besteht immer mehr aus Parallelwelten. Hier der Elfenbeinturm mit endlos gefüllten Cüpli, dort das Büezer-Bier für die arbeitende Bevölkerung. Die einen wollen nichts ausrichten, die anderen können nichts ausrichten. Da wir erst gerade gewählt haben, wird sich daran in den nächsten Jahren auch nichts ändern. Und vermutlich auch danach nicht.

Jede Woche wird «züüslat»

Die Kolumne «Züüsla mit Millius» erscheint wöchentlich nur auf rheintal24.ch. Der Auer Journalist kommentiert lokale und regionale Ereignisse mit spitzer Feder und aus einer anderen Perspektive.

Stefan Millius
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