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06.10.2023
06.10.2023 16:45 Uhr

Die Tinte ist leer

Bild: pinterest/künstlerin unbekannt
Sicherheit im Leben ist wichtig. Doch zu welchem Preis? In der Kolumne «Gedanken einer Generation» geht unsere Autorin dieser Frage nach und erklärt, wieso das ihre letzte Kolumne ist.
  • von Miryam Koc

Es gibt so vieles, worüber ich schreiben möchte, also schreibe ich nichts.

Meine letzte Kolumne ist fast fünf Monate her und das, obwohl es so viele Themen gäbe, über die ich gerne geschrieben hätte. Jedes Mal, wenn ich zum Schreiben ansetzte, verwarf ich nach wenigen Zeilen das Dokument, zweifelte an meiner Fähigkeit überhaupt Sätze formulieren zu können, liess mich von Stimmen, die sagten, dass das, was ich tue, nicht genüge, einnehmen, verglich mich mit anderen, redete mein Können klein, war wütend über meine Unfähigkeit und das Papier blieb leer – symbolisch für mein Inneres. 

Ich fragte mich, wie ich in dieses kreative Loch gefallen bin. Lag es daran, dass ich sonst so viel zu tun hatte, dass keine Zeit und Musse für inspirierende Texte blieb? Ausgebrannt mit Mitte 20? Das kann nicht sein, oder?

Weil geteiltes Leid halbes Leid ist, hörte ich mich bei meinen Freunden um. Und tada: Viele aus ganz anderen Branchen erzählen, dass ihnen der Antrieb fehlt, sie mehrmals am Tag mit dem Gedanken spielen, den Job hinzuschmeissen und das, was sie tun, sich nicht mehr richtig anfühlt.

Doch zu gross ist die Angst vor dem Ungewissen. Zu gross, die Sorge, jemanden und vor allem sich selbst zu enttäuschen. Was passiert, wenn man nicht sofort etwas findet? In der Schweiz wird schliesslich gearbeitet – am besten ganz viel und ohne Unterbruch. So eine Lücke im Lebenslauf sieht ja gaaaar nicht gut aus.

In einem Land, wo wir uns (Gott sei Dank) so in Sicherheit wiegen können, fällt es aber auch extrem schwer, Risiken einzugehen, uns in unbekannte Gewässer zu stürzen, ohne sofort einen Rettungsring parat zu haben.

Hinzu kommt, dass viele junge Menschen mit Migrationshintergrund, deren Eltern als erste Generation in die Schweiz gekommen sind, und sich hier mit viel Mühe und Schweiss ein sicheres Leben aufgebaut haben, oftmals unter einer gewissen Erwartungshaltung leiden. Die Eltern, die aus unsicheren Lebensgrundlagen geflohen sind, können nur schwer verstehen, wieso das Kind Entscheidungen trifft, die scheinbar genau das Gegenteil bezwecken.

Also bleiben wir lieber in der gewohnten Situation, die uns unglücklich macht, aber Stabilität bietet. Ich habe das grosse Glück, einen Beruf auszuüben, der mir sehr viel Freude bereitet – und dennoch ist die Zeit gekommen, mal auf Pause zu drücken.

Weil wir so viele Stunden unseres Lebens mit Arbeiten verbringen, ist es logisch, dass wir uns auch so krass durch unseren Job definieren. Wer sind wir ohne den Titel der Journalistin, des Sales Managers, der Ärztin oder des Logistikers? Zu sehr geht es um gesellschaftliche Akzeptanz, Status und Ego.

Stell dir vor, niemand dürfte auf einer Party mit vielen Fremden fragen «und was machst du so beruflich?».

Was würdest du antworten, wenn dein Job egal wäre? Was sind deine Träume, was deine Ängste? Was wäre, wenn wir ein Stück von uns statt unserer Fassade preisgeben würden?

Wie das wäre, möchte ich herausfinden und habe meinen Job an den Nagel gehängt – ohne einen genauen Plan zu haben, was kommt und was geht. Ja, ich habe ein bisschen Schiss, aber die Neugier, wie warm oder kalt die unbekannten Gewässer sind, überwiegt.

Ich weiss nicht, ob du auch mit irgendeiner Entscheidung ringst, wie deinen Job zu kündigen, in eine andere Stadt zu ziehen, eine Beziehung einzugehen oder dich von einer Freundschaft zu lösen. Ich weiss auch nicht, was du tun sollst. Ich weiss nur, dass Mut oft belohnt wird und du tief in deinem Inneren eigentlich spürst, was richtig ist, die Angst dich aber zu oft lähmt. Was ist, wenn nicht das Worst-Case-, sondern das Best- oder Better-Szenario eintrifft?

Danke fürs fleissige Lesen dieser Kolumne und à bientôt.

 

Über mich
Ich bin Miryam, meine Freunde nennen mich mal Mimi, mal Miri. Seit ich 17 bin, schreibe ich für verschiedene Zeitungen und Portale. Meine Zwanziger hätte ich mir eher so als «Roaring Twenties» statt Apokalypsenstimmung gewünscht. Schreiben ist mein Ventil und hilft mir dabei, Dinge einzuordnen und zu verarbeiten. Weil ich weiss, dass man weniger Herzschmerz hat, wenn die beste Freundin ebenfalls eine Trennung durchmacht, teile ich hier Gedanken unserer Generation. So können wir zusammen Vanilleglace löffeln, bisschen weinen, aufregen und lachen.

Hast du Fragen, Kritik und Anregungen? Dann schreib mir an miryam.koc@stgallen24.ch oder auf Instagram.

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