- von Miryam Koc
«Und woher kommst du ursprünglich?» Die Frage, die sich heute kaum noch jemand zu stellen traut, gehörte in meiner Kindheit – also in den 2000ern – quasi zum Smalltalk. Trotzdem überforderte sie mich damals.
«Baba, was soll ich antworten? Wir haben ja kein Land.»
Er erklärte mir, dass wir Aramäer, eine christliche Minderheit aus dem ehemaligen Mesopotamien, sehr wohl ein Land hatten, aber mit der islamischen Expansion seit dem 7. Jahrhundert und dem Völkermord an den syrischen Christen während des Ersten Weltkrieges, das Gebiet verloren.
Während noch heute einige Aramäer im Irak, im Grenzgebiet von Syrien, in der Türkei und im Iran leben, verschlug es sehr viele nach Europa, den USA und Australien. Also dahin, wo sie den christlichen Glauben ohne Angst vor Verfolgung und Unterdrückung ausleben können.
So auch meine Eltern, die in den frühen 80ern, in die Schweiz kamen. Ohne eigene Staatsbürgerschaft und ohne ein Land, das man während den Ferien besuchen konnte, bauten sie sich hier ein neues Leben auf. Vielleicht weil es eben keinen Ort gab, den sie ohne bitteren Beigeschmack als Heimat bezeichnen konnten, integrierten sie sich hier stark, arbeiteten von morgens bis abends abwechselnd in Schichten, büffelten nebenbei für die Einbürgerung, lernten Deutsch und schickten ihre Kinder in den Geigen-, Kunst-, Karate- und Theaterunterricht.
«Bloss nicht negativ auffallen», hiess es immer wieder.
Heute weiss ich, dass meine Eltern damit nicht meinten, dass ich meine Identität leugnen sollte, aber als Kind bedeutete dies für mich, dass ich gleich sein muss. Gleich wie die Schweizer Kinder und dass man mir die «Ausländerin» nicht ansehen darf. Dass mein Name hier üblich, die Haut hell und die Haare weder zu dunkel noch zu dick waren, machten mir die Farce leicht.
Ich sah, wie andere Kinder, dessen Deutsch gebrochener war, dessen mitgebrachtes Essen «exotisch» roch und dessen Wanderschuhe ausgeliehen waren, auf weniger Akzeptanz trafen. Sie wurden ausgegrenzt, ausgelacht und aus ihren Nachnamen wurden alle möglichen Kreationen gemacht. «Du bist ein gutes Ausländerkind», sagte mir damals eine Mutter einer Schweizer Freundin. Dieser Satz traf mich stark.
Plötzlich fühlte ich mich wie eine Verräterin gegenüber den anderen Kindern und ich begriff, dass egal, was ich tue, ich trotzdem nie ganz dazugehören werde.
Integration geht davon aus, dass eine Gesellschaft aus einer relativ homogenen Mehrheitsgruppe und einer kleinen Aussengruppe besteht, die in das bestehende System integriert werden muss – und das ist meiner Meinung nach falsch. Vielmehr sollte Inklusion das Ziel sein; nicht der Einzelne muss sich dem System anpassen, sondern die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen so flexibel sein, dass sie jedem Einzelnen Teilhabe ermöglichen. Kein Kind sollte sich für seine Sprache, seinem Namen, Essen oder seiner Kleidung schämen müssen.
Heute verwirrt mich die Frage, wo Heimat ist, übrigens nicht mehr. Heimat ist das Lachen meiner Brüder, die Umarmungen und Küsse meiner Mutter, der Duft aus der Küche, wenn mein Vater kocht und der Gedanke, dass Wurzeln wandern können.