Leseprobe: AVA GARDNER
An manchen Tagen spazierte Higgins über Mittag in Gedanken versunken der Themse entlang, über den Weg, den seine Frau Ambra und er so oft in ihren Ehejahren genommen hatten. Auf diesem Weg hatten sie gelacht, geschwiegen, getrauert, diskutiert und die Zeit vergessen, wenn sie sich in die Arme nahmen, weil sie eine Krise überstanden hatten oder einfach nur glücklich waren.
Higgins blieb stehen, lehnte sich an das steinerne Geländer und fühlte, wie sich das heisse Eisen des Verlustes wie eine Schlange um sein Brustbein schloss, bis in die Kehle, worauf der Druck sich teilte und sich über beide Augen in Tränen befreien wollte.
«Du fehlst mir … Du fehlst mir so sehr. Ich weiss manchmal nicht, wie ich die Tage ohne dich überstehen soll.»
Higgins sah den letzten Tag vor seinen Augen, den sie zusammen verbracht hatten, bevor Ambra abends nur kurz ein Brot kaufen wollte – und davon nie mehr zurückkam. Dabei war das eigentlich sein Ritual, um vor dem Essen noch ein wenig frische Luft zu schnappen. Doch an diesem Tag stand der Schneider kurz vor der Vollendung einer Robe für einen Parlamentarier, sodass Ambra entschied, selbst einzukaufen. Und dann geschah das Undenkbare … Sie wussten ja beide, dass sie durch ihr spezielles Wissen und ihre besonderen Freunde stets in Gefahr waren. Aber sie dachten nie, dass ihre Feinde so weit gehen würden. Das Fahrzeug begann Fahrerflucht. Niemand hatte gesehen, was für eines es war oder wer am Steuer sass. Es war, als existierte dieser Wagen überhaupt nicht. London ist mit einem flächendeckenden Überwachungssystem ausgestattet. Aber genau an diesem Abend fielen an dieser Strassenecke die Kameras aus.
Andrew und Ambra Higgins lebten wohl schon länger in steter, wenn auch unterschwelliger Furcht, die sie wie eine leise Klingel an der Haustüre störte – Angst wegen ihres Wissens um viele Geheimnisse, die sie rund um ihre Tätigkeiten mitbekommen hatten. Aber im Zusammensein konnten sie sich gegenseitig die Furcht nehmen. Zusammen bestritten sie auch so manche Attacke ihrer Feinde. Die feine Klingel hielt sie wacher und achtsamer als jedes andere Paar. Seit jenem Nachmittag vor vielen, vielen Jahren, bei Vito in Neapel, wussten beide, dass ihr Leben nie mehr so sein würde, wie es zuvor war.
Higgins riss sich aus seinen Träumen und ging zurück zu seinem Geschäft. Über die Themse zog ein steifer Wind, der den Herbst ankündigte. Wieder ein Winter ohne Ambra, dachte der Schneider. Manchmal wünschte er, er könnte sich dieses heisse Eisen aus der Brust reissen, manchmal hoffte er, es möge ihn verbrennen.
Higgins betrat seinen Laden durch die Hintertür, weil er vor dem Öffnen noch einige Momente für sich haben wollte. Als er das Entrée betrat, sah er, dass aus diesem Wunsch nichts wurde. Da lehnte jemand mit dem Rücken zur Türe an seinem Geschäft. Im ersten Moment war es nur ein schwarzer Zustand, der sich an das Glas drückte. Erst auf den zweiten Blick erkannte Higgins, dass da ein wohlgeformter Frauenkörper ganz in Schwarz gewandet an seiner Tür lehnte. Higgins klopfte auf Kopfhöhe sachte an die Scheibe.
Da wirbelte ein Kopf herum, umweht von einer schwarzen Pracht an vollem, glänzendem Haar, und Higgins blickte in ein wunderschönes Frauengesicht von bestechender Reife, wie er es seit Jahren, seit dem Tod seiner Frau, nicht mehr gesehen hatte. Der Schneider starrte einen Moment lang in das Gesicht, bis dieses sanft die Augenbrauen hob, Higgins ein Lächeln schenkte und ihm ein Zeichen gab, ob er wohl die Türe öffnen würde. Er erkannte die Frau, obwohl sie sich noch nie persönlich begegnet waren.
Higgins riss sich aus seiner Verwunderung, öffnete elegant die Türe und sagte freundlich: «Seien Sie gegrüsst, Lady Ava.»
«Vielen Dank, Mister Higgins.» Sie schritt leicht schwebend an ihm vorbei.
Ava Gardner war auf eigenwillige Art gekleidet – eine Mischung aus Leder, Seide und festes, dicht gewobenes Leinen, die an manchen Stellen von Eisenteilen zusammengehalten wurde. Alles in Schwarz. Dagegen hielten ihre leuchtend roten Lippen, ihr blasser Hautton und ihre eisblaue Augen. Die Besucherin bewegte sich langsam in seinen Empfangsraum. Sie war eine Frau mit grosser Wirkung, die sie auch einzusetzen wusste.
Higgins war von Gardners Erscheinung fasziniert und seine Augen konnten nicht verhindern, die auf der Figur liegende Erotik für ein paar Sekunden zu bewundern.
«Was führt Sie zu mir, Lady Ava?», fragte der Schneider in einer freudvollen, fast verlegenen Note und schloss dabei die Eingangstür.
«Ich benötige Ihre besonderen Dienste», antwortete Gardner und schmunzelte in sich hinein, weil aus Higgins’ Stimme feine Splitter von Komplimenten herauszuhören waren.
«Meine besonderen Dienste? Ich verstehe nicht ganz, was Sie damit meinen, Lady Ava.»
«Besteht bei Ihnen die Möglichkeit einer intimeren Umgebung?», fragte Ava Gardner, ohne mit der Wimper zu zucken.
Higgins wurde von einer neuen Welle an Faszination erfasst, nahm das Schild «Geschlossen», hängte es an die Türe und bat die Besucherin mit einer sanften Bewegung nach hinten in seinen Arbeitsraum.
Als Gardner seinen Arbeitsraum betrat, lehnte sich Higgins an seinen grossen Tisch, verschränkte die Arme und fragte in einem etwas angriffigen, aber eleganten Ton: «Ist es Ihnen hier intim genug?»
«Mister Higgins, vielleicht war intim für den Beginn unserer Zusammenarbeit wohl eine Spur zu verfrüht. Aber ja, hier ist es wunderbar. Was für ein Raum!»
Dabei ging Gardner um den grossen Tisch und fuhr mit der Hand darüber, aber auch sonst musste sie vieles berühren, was sie in diesem Raum faszinierte.
«Verzeihen Sie, mein lieber Higgins, mein kindliches Bedürfnis, alles, was mir gefällt, zu berühren. Aber was mir gefällt, muss ich spüren.» In ihrem letzten Satz klang eine Nuance mit, bei der Higgins ahnte, dass das vermutlich kein einfacher Nachmittag werden würde. Der Schneider lehnte sich an seinen Platz an die Wand und wartete, bis sich die Dame ausgetobt hatte. Es war amüsant zu sehen, wie sich eine gestandene Frau durch den Glanz gewisser Gegenstände aus der Fassung bringen lassen konnte. Als ob sie Higgins’ Gedanken erraten könnte, stoppte Gardner ihre Euphorie und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen. Sie wurde von einer Sekunde auf die andere ernst. Die Ernsthaftigkeit in ihrem Gesicht verlieh ihren ebenmässigen Züge Strenge, und aus ihrer Schönheit drang ein Versprechen, das viele Männer anziehend gefunden hätten.
«Ich brauche Ihre besonderen Dienste. Oder sind die nur Männern vorbehalten?»
«Was wünschen Sie, Lady Ava?» Higgins wurde im selben Moment selbst zu einer ernsten Person. «Oder anders gefragt: Worum geht es bei Ihrer Angelegenheit?»
Der Schneider wartete in aller Ruhe an seiner Wand. Gardner zog sich langsam – ohne Higgins eines Blickes zu würdigen – die Handschuhe aus, dann ihre kurze schwarze Lederjacke. Unter der Jacke erschien ein Korsett, ebenfalls aus Leder, ebenfalls von hervorragender Qualität. Die Frau begann, das mit kunstvollen Haken und silbernen Ösen verschlossene Korsett unterhalb ihres wohlgeformten Busens langsam zu öffnen. Nach ihrer dieser provokativen Prozedur sah sie Higgins streng in die Augen, sodass es dem Schneider einen Moment seltsam wurde.
«Sehen Sie diese Narbe hier?» Gardner zeigte auf eine sternförmige Narbe oberhalb ihres Bauchnabels.
«Ja, ich kann sie sehen», antwortete Higgins leicht irritiert. Gardner lehnte an die Wand, hielt ihr Korsett zu, um sich irgendwo festzuhalten, und begann zu erzählen.