Leo Tolstoi ist ein Meister von akkurat gezeichneten Charakteren, deren Hoffnungen, Sehnsüchte und vermeintliche Abgründe aufgrund ihrer Offenheit und Durchlässigkeit in den Bann ziehen.
Mit Anna Karenina hat er in den 1870er Jahren eine der bekanntesten Frauenfiguren der Weltliteratur geschaffen. Ihr Ringen um Freiheit und der Wunsch nach Selbstbestimmung prallten im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf die starren Normen eines Gesellschaftssystems, das mit seinen strikten Geschlechterrollen vor allem Frauen kaum Spielraum für Individualität liess.
Die entschlackte Bühnenfassung der Regisseurin Mirja Biel konzentriert sich auf die wichtigsten Protagonisten, lässt diese aber auf wechselnden Erzählebenen gleichzeitig die Positionen weiterer Figuren thematisieren. Mit «Julia und Romeo» hat Mirja Biel am Theater St.Gallen bereits in der vergangenen Spielzeit einen Klassiker adaptiert.
Auch in «Anna Karenina» beleuchtet sie die Geschichte aus der Frauenperspektive; dabei legt sie den Fokus weniger auf eine historische Darstellung, sondern lässt die Figuren aus heutiger Sicht einen Ausweg aus den Altlasten verstaubter gesellschaftlicher Konventionen suchen, an denen wir uns heute noch abarbeiten.
Das Bühnenbild von Frauke Löffel besteht aus einer überdimensionalen Folie, einem Segel, das im gesamten Bühnenraum in unterschiedliche Positionen gebracht werden kann. Darüber hinaus dient es als Projektionsfläche für Videoeinspieler und Live-Videos.
Wind-Ventilatoren bringen das Segel in Bewegung, treiben das Geschehen auf der Bühne voran und schaffen eine Soundkulisse, die neben der Live-Musik von Réka Csiszér zu einem integrativen Bestandteil des Bühnenbilds wird. Sophie Rebles Kostüme unterstützen die Vielseitigkeit der Figuren und schlagen anhand von historischen Elementen eine visuelle Brücke zur damaligen Zeit.
Leitung
Inszenierung: Mirja Biel
Bühne: Frauke Löffel
Kostüm: Sophie Reble
Licht: Andreas Enzler
Live-Musik: Réka Csiszér
Dramaturgie: Stefan Späti
Regieassistenz: Maren Watermann
Besetzung
Anna Blumer, Tabea Buser, Pascale Pfeuti, Tobias Graupner, Fabian Müller