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Stadt St.Gallen
21.09.2021

Kontrolle, Angst und Verbundenheit

Prof. Dr. Hildegund Keul ist eine renommierte Vulnerabilitätsforscherin, Theologin, Religionswissenschaftlerin und Germanistin.
Prof. Dr. Hildegund Keul ist eine renommierte Vulnerabilitätsforscherin, Theologin, Religionswissenschaftlerin und Germanistin. Bild: PD
Dass die Offenlegung der eigenen Verwundbarkeit in Stärke umgemünzt werden kann, zeigte kürzlich Prof. Dr. Keul in einem Impulsreferat auf. Die Vulnerabilitätsforscherin referierte auf Einladung der KAB SG im Pfalzkeller St.Gallen.

Es ist das Thema der Stunde: Verletzlichkeit, im Fachjargon Vulnerabilität genannt. Wie gehen wir mit ihr um? Kann Verletzlichkeit sogar Macht bedeuten und können Wunden ein verbindendes Element unserer Gesellschaft sein? – Diese Fragen beleuchtete Prof. Dr. Hildegund Keul in ihrem spannenden Impulsreferat im Pfalzkeller, das von der Christlichen Sozialbewegung KAB SG organisiert wurde.

Hildegund Keul ist eine renommierte Vulnerabilitätsforscherin an der Universität Würzburg, Theologin, Religionswissenschaftlerin und Germanistin. Eine These der Wissenschaftlerin ist, dass das Wissen um die Verletzlichkeit des Gegenübers eine Machtdemonstration sein könne: «Wenn Sie als Kind wussten, wo die wunden Punkte Ihrer Geschwister sind, konnten Sie diese bestimmt in Sekundenschnelle gezielt auf die Palme treiben.»

Die Verletzlichkeit anderer bringe nicht nur Kontrolle, sondern könne genauso gut auch Ängste auslösen. Man denke dabei nur an das Thema Migration. «Nicht wenige fühlen sich von Bildern von verzweifelten Menschen, die auf der Flucht ihr Leben riskieren, in der eigenen Verletzlichkeit angegriffen. Die Reaktion darauf ist oftmals Abschottung. Dieses Mauern isolieren und mache das Leben nicht unbedingt schöner.»

Feuerwehrmänner und Flutopfer

Keul brach in ihrem Referat eine Lanze für das selbstlose Handeln, das die Mehrheit der Menschheit immer wieder an den Tag lege. Als Beispiel dafür nannte sie das Ahrtal in Rheinland-Pfalz, das diesen Juli überflutet wurde. «Feuerwehrmänner haben ihr Leben riskiert. Unzählige Freiwillige boten spontan Hilfe an und stärkten damit die gebeutelten Flutopfer im Wissen darum, dass sie in der Katastrophe nicht allein sind.»

Die persönliche Verwundbarkeit für andere zu erhöhen, könne die eigene und die Widerstandskraft anderer wachsen lassen. «Wunden sind nicht selten verbindend», resümierte Keul.

Prof. Dr. Hildegund Keul Bild: PD

Verletzliche Symbole im Christentum

Die Theologin und Religionswissenschafterin betonte, dass gerade im Christentum zahlreiche Symbole und Heilige verehrt werden, die in ihrer Verletzlichkeit Stärke entfalten: «Das Jesuskind ist der Inbegriff von Verletzlichkeit. Nichts ist schutzloser als ein Neugeborenes. Kaum etwas anderes weckt in uns aber gleichzeitig das Bedürfnis, uns vorbehaltlos für es einzusetzen. Diese Solidarität und Humanität sollte der gelebte Leitgedanke von uns allen sein.»

Sich nutzlos fühlender Bischof und starke Frauen

Ein Ereignis, das uns die eigene und gesellschaftliche Fragilität drastisch vor Augen geführt hat, ist die Corona-Pandemie. Dies bestätigten die Mitwirkenden der Podiumsdiskussion, die auf das Impulsreferat folgte. Moderiert wurde dieses eloquent von Thomas Wallimann, Leiter des sozialethischen Instituts «ethik22».

So zweifelte Bischof Markus im Frühling 2020 plötzlich an seiner Daseinsberechtigung als Vorsteher des Bistums St.Gallen: «Ich möchte mit und für Menschen unterwegs und mit ihnen im Dialog sein. Als dies während des Lockdowns plötzlich nur noch sehr begrenzt möglich war, fühlte ich eine erschütternde Ohnmacht. Umso schöner war der Umstand, als wenig später bei den Bistumsmitarbeitern eine immense Solidarität und Dynamik einsetzte. Gemeinsam versuchten wir, das Beste aus der Situation zu machen.»

Ähnliches erlebte Bernadette Bachmann, bis vor kurzem Präsidentin des Solidaritätshauses St.Gallen: «Die Pandemie und die damit einhergehenden Herausforderungen weckten vor allem bei den Frauen im Solihaus ungeahnte Kräfte.» Gleichzeitig wies Bachmann darauf hin, dass bei den Flüchtlingen, die im Solihaus leben, grosse Aufklärungslücken in Bezug auf die Corona-Impfung bestünden.

Bischof Markus Büchel Bild: PD

Gesprächsbereit bleiben und zuhören

Donat Wick, Leiter der «Herberge zur Heimat», die Menschen in psychosozialer Not Unterkunft bietet, beschäftigen vor allem die kommunikativen Barrieren, die sich mit der Pandemie aufgetan haben: «Die letztjährige Weihnachtsfeier war trostlos. Nach 45 Minuten zogen sich alle wieder in ihre Zimmer zurück. Wir müssen wieder lernen, offen aufeinander zuzugehen.» Wie wichtig es sei, einander ein offenes Ohr zu schenken, erlebe er aktuell bei seinem Nachbarn, der seine Frau an Corona verlor. «Diesem Mann in seiner Einsamkeit und Trauer beizustehen, gibt mir gleichzeitig Kraft.»

Antje Schatton, stellvertretende Leiterin des Ambulatoriums der Psychiatrie Nord in St.Gallen, appellierte daran, dass wir in der momentanen aufgeheizten Impfdebatte, hüben wie drüben nüchtern und gesprächsbereit bleiben müssen. Bischof Markus Büchel ergänzte mit seinen Abschlussworten: «Wir sollten besonders jetzt, und auch in Zukunft, vermehrt zu- und in uns hineinhören, damit wir unsere Stärken und Schwächen erkennen.»

Liebevoll gestaltet

Die Organisatoren der KAB SG gestalteten die Matinee im Pfalzkeller äusserst liebevoll. Bilder der widerständigen Wegwarte begleiteten durch den Vormittag. Ein darauf abgestimmtes Kartenset für jeden Teilnehmer gehörte ebenso zum stimmigen Rahmen, wie die bewegenden Zwischenklänge von Prof. Francisco Pablo Obieta. Im Anschluss an den offiziellen Teil genossen die über hundert Anwesenden, nicht zuletzt dank Zertifikatsnachweis, unbeschwerte und angeregte Gespräche bei Risotto und Wein.

Christliche Sozialbewegung KAB SG

Der Kerngedanke der KAB SG lautet «Christliche Sozialethik. In die Gesellschaft hineinwirken. Lebensnah.» Das Wurzelgeflecht der Bewegung reicht an die Wende zum 20. Jahrhundert. Katholische Arbeitervereine begegneten damals wirtschaftlicher Not und strebten nach sozialen Reformen. Bildung gehörte unbedingt dazu. Die Grundausrichtung ist bis heute dieselbe geblieben. Die Sozialformen und Inhalte haben sich in der über 120-jährigen Geschichte laufend verändert und wurden den Erfordernissen der Zeit angepasst. Die Ausrichtung geht heute weg von der Sektion hin zum ökumenisch offenen Netzwerk, von der Orientierung nach innen zum Wirken nach aussen.

Die KAB SG ist klar politisch, aber nicht parteipolitisch. Wichtige Partner sind das Hilfswerk «Brücke · Le pont» und das Institut «ethik22». Das Netzwerk will Menschen verbinden, die Ziele und Werte teilen. Neuartige Angebote wie «Ethik bei Wein & Brot» bringen aktuelle sozialethische Fragen an die Basis in den Regionen.

pez/pd
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