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01.12.2025
01.12.2025 14:21 Uhr

«16 Tage gegen Gewalt an Frauen»: OST-Expertin ordnet aktuelle Femizid-Zahlen ein

In der Schweiz sind dieses Jahr über 20 Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet worden: meist vom Partner oder Ex-Partner. Damit hat die Zahl der Femizide ein trauriges Rekordhoch erreicht. Fast immer geht solchen Taten häusliche Gewalt voraus
In der Schweiz sind dieses Jahr über 20 Frauen aufgrund ihres Geschlechts getötet worden: meist vom Partner oder Ex-Partner. Damit hat die Zahl der Femizide ein trauriges Rekordhoch erreicht. Fast immer geht solchen Taten häusliche Gewalt voraus Bild: zVg
Am 25. November haben die «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» begonnen. Die Präventionskampagne läuft bis zum 10. Dezember und thematisiert geschlechtsspezifische Gewalt schweizweit. Gabriella Schmid, Lehrbeauftragte und Mitgründerin des CAS Traumapädagogik und Traumaberatung an der OST, erläutert Hintergründe, Denkmuster der Täter und Risikofaktoren.

Gabriella Schmid, Professorin für Soziale Arbeit, engagiert sich seit Jahrzehnten für den Schutz von Frauen. Im Interview spricht die Mitgründerin des CAS Traumapädagogik und Traumaberatung an der OST – Ostschweizer Fachhochschule darüber, welches Denkmuster bei den Tätern vorherrscht, warum die Phase der Trennung für Frauen besonders gefährlich ist und was es braucht, damit sie nicht wieder zu ihren gewalttätigen Männern zurückkehren müssen.

Gabriella Schmid, ein Femizid ist per Definition eine «Tötung aufgrund des Geschlechts». Aber was heisst das genau?
Typisch für Femizide ist, dass sie Ausdruck patriarchaler Verhältnisse und fehlender Gleichstellung sind. Der Mann betrachtet die Frau als seinen Besitz und verlangt von ihr, sich ihm unterzuordnen. Das geht damit einher, dass er eine starke Macht auf sie ausübt und sie kontrolliert. Versucht sie, sich dieser Kontrolle zu entziehen, droht Gewalt und im Extremfall die Tötung. Besonders gefährlich ist die Situation, wenn sich eine Frau von ihrem Mann trennen möchte. Bei Femiziden sind also meist die Partner oder Ex-Partner die Täter, in seltenen Fällen auch andere Familienmitglieder.

Wie kommt es, dass dieses Phänomen in einer weitgehend aufgeklärten, gleichberechtigten Gesellschaft noch so vorherrschend ist?
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern war über Jahrtausende der Normalzustand. Im Verhältnis dazu existieren Frauenrechte und Gesetze gegen häusliche Gewalt erst seit kurzer Zeit. Nach wie vor sind deshalb Überbleibsel des Patriarchats spürbar, auch in unserem Rechtssystem. Wenn ein Mann seine Frau oder Partnerin tötet, kann er auch heute noch oft auf mildernde Umstände hoffen. Etwa, indem Anwälte argumentieren, er habe sich im Ausnahmezustand befunden, weil sie ihn verlassen wollte. Je nachdem stuft ein Gericht die Tat dann lediglich als vorsätzliche Tötung und nicht als Mord ein. Das zeigt, dass häufig verleugnet wird, was hinter solchen Delikten tatsächlich steht: nämlich der Versuch eines Mannes, seine Macht über die Frau zurückzugewinnen – aus der Überzeugung heraus, ihr überlegen zu sein und Gewalt anwenden zu dürfen.

«Studien belegen, dass sich junge Männer zunehmend wieder an alten Rollenbildern orientieren und diese aktiv reproduzieren. Das zeigt sich unter anderem an der Popularität zahlreicher Influencer, die mit ihren frauenfeindlichen und frauenverachtenden Inhalten Erfolg haben.»

Dieses Jahr wurde im Durchschnitt alle zwei Wochen eine Frau Opfer eines Femizids. Mit über 20 Fällen ist die Zahl so hoch wie noch nie zuvor. Ist das reiner Zufall oder lässt sich ein trauriger Trend ablesen?
Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, da es verschiedene Erklärungsansätze gibt. Zunächst einmal gilt es zu erwähnen, dass die Bezeichnung «Femizid» in unserem Strafrecht gar nicht existiert und es deshalb auch an offiziellen Statistiken fehlt. Dennoch rückt der Begriff zunehmend ins Blickfeld. Früher wurden Tötungen an Frauen häufig als Beziehungsdelikte eingeordnet, bei denen ein Streit tragisch eskalierte. Als Grund dafür sah man immer einen persönlichen Konflikt zwischen Täter und Opfer. Heute klären Organisationen wie Stop Femizid bewusst über die Hintergründe dieser Taten auf und machen damit deutlich, dass es um ein strukturelles Problem geht – die geschlechterspezifische Gewalt aufgrund patriarchaler Machtverhältnisse und männlicher Besitzansprüche. Das dürfte dazu führen, dass mehr Femizide als solche erkannt werden und deren Zahl entsprechend steigt. Der andere Erklärungsansatz ist weitaus besorgniserregender. So könnte es sein, dass Frauen wieder öfter zum Opfer männlicher Gewalt werden, weil sie zunehmend für ihre Autonomie und ihre Rechte einstehen. Die fortschreitende Emanzipation hätte demnach zur Folge, dass das Patriarchat zurückschlägt.

Gibt es eine gesellschaftliche Tendenz zurück zum Patriarchat?
Studien belegen, dass sich junge Männer zunehmend wieder an alten Rollenbildern orientieren und diese aktiv reproduzieren. Das zeigt sich unter anderem an der Popularität zahlreicher Influencer, die mit ihren frauenfeindlichen und frauenverachtenden Inhalten Erfolg haben. Oder an der Beliebtheit von Filmen und Games, die eine archaische Vorstellung von Männlichkeit vermitteln. Auch in der Politik ist die Entwicklung zurück zu patriarchalen Strukturen sichtbar. Zum Beispiel hat das lettische Parlament vor Kurzem beschlossen, aus der Istanbul-Konvention auszusteigen. Dieses Abkommen zum Schutz von Frauen und Mädchen ist Konservativen ein Dorn im Auge, weil sie dadurch traditionelle Familienwerte gefährdet sehen. Gesellschaftliche Errungenschaften wie Gleichberechtigung treffen immer wieder auf Gegenbewegungen und laufen Gefahr, rückgängig gemacht zu werden. Das verdeutlicht einmal mehr, dass man Fortschritte stets von Neuem verteidigen muss.

Prof. Gabriella Schmid Bild: zVg

In politischen Diskussionen kommt immer wieder das Argument auf, bei häuslicher Gewalt und Femiziden handle es sich in erster Linie um ein Problem, das erst durch Menschen mit Migrationshintergrund in Erscheinung getreten sei. Ist diese Gruppe tatsächlich übervertreten?
Der Mythos, dass häusliche Gewalt und Femizide hauptsächlich bei Familien mit Migrationsgeschichte oder Familien aus tieferen sozioökonomischen Schichten vorkommen, hält sich hartnäckig und wird von rechten Kreisen immer wieder befeuert. Die Forschung macht aber deutlich, dass sämtliche Kulturen und Gesellschaftsschichten vertreten sind. Das deckt sich auch mit meiner Erfahrung, die ich als Beraterin von gewaltbetroffenen Frauen gemacht habe. Weit mehr als die Hälfte der Hilfesuchenden waren Schweizerinnen, die durch ihre Schweizer Ehemänner Gewalt erfahren haben. Bei den Tätern handelte es sich oft auch um gutsituierte Männer, die in hoch angesehenen Berufen arbeiteten – darunter etwa Polizisten oder Richter. Aber es gibt zu diesem Thema sehr unterschiedliche Untersuchungen, deren Ergebnisse aus meiner Sicht teils hinterfragt werden dürfen.

Zum Beispiel?
Einige Berichte kommen zum Schluss, dass die Polizei in Bezug auf häusliche Gewalt überproportional häufig zu Familien mit Migrationshintergrund gerufen wird. Das muss aber nicht heissen, dass diese Familien tatsächlich häufiger betroffen sind, sondern es kann auch an der Wohnsituation liegen. In einem Wohnblock, in dem die Nachbarschaft jeden Streit mithört, ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand die Polizei benachrichtigt, viel grösser. Streitet ein Paar in einem Einfamilienhaus, bekommt es vielleicht gar niemand mit. Oft wird auch hervorgehoben, dass die Plätze in Frauenhäusern primär von Migrantinnen belegt sind. Deren Anzahl ist unbestritten hoch, was aber auch damit zusammenhängen könnte, dass sie im Vergleich zu Schweizerinnen vielleicht weniger Mittel haben, um von zu Hause wegzugehen, und die Wahl deshalb aufs Frauenhaus fällt.

Gewalttätige Männer kommen also in allen Bevölkerungsgruppen und Schichten vor. Gibt es dennoch etwas, das ihnen gemeinsam ist? Entscheidet am Ende ein bestimmter Charakterzug darüber?
Es sind weniger die Charakterzüge als vielmehr die Denkmuster und Wertevorstellungen. Die Täter sind überzeugt, dass sie als Männer überlegen sind und Frauen bedingungslos für sie da sein müssen. Sie geben sich die innere Erlaubnis, zuzuschlagen, und halten Gewalt für ihr gutes Recht. Fachleute, die mit gewalttätigen Männern arbeiten, sagen oft, dass die Täter kein gutes Selbstbewusstsein hätten und sich ohnmächtig und hilflos fühlten, wenn die Frau sie kritisiere, ihnen widerspreche oder etwas fordere. Gewalt beruht also häufig auf gekränkter Männlichkeit. Indem Männer Gewalt ausüben, holen sie sich die Macht zurück. Gegen aussen sind die Täter aber oft angepasst und unauffällig. Niemand würde je ahnen, dass sie ihren Frauen Gewalt antun. Ich denke da an den Mann einer ehemaligen Klientin, der als Polizist arbeitete und oft auch bei häuslicher Gewalt ausrückte. Paradoxerweise hat er zu Hause selbst zugeschlagen.

«Gewalt beruht häufig auf gekränkter Männlichkeit. Indem Männer Gewalt ausüben, holen sie sich die Macht zurück. Gegen aussen sind die Täter aber oft angepasst und unauffällig.»

Geht einem Femizid immer häusliche Gewalt voraus?
Dass ein Femizid völlig aus heiterem Himmel geschieht, kommt selten vor. In den meisten Fällen gibt es bereits vorher deutliche Warnsignale: Häufig beginnt es mit Kontrollverhalten und kleineren Übergriffen. Entscheidend ist, frühzeitig hinzuschauen. Bei den Femiziden, die mir bekannt sind, wussten viele Stellen Bescheid, dass der Mann seiner Frau gegenüber gewalttätig war.

Warum fällt es Frauen so schwer, aus toxischen Beziehungen auszubrechen?
Oft haben die Täter am Anfang noch eine liebevolle und aufmerksame Seite und zeigen diese nach Gewaltexzessen ganz besonders. Sie entschuldigen sich und geben sich reuig. Die Frauen schöpfen Hoffnung, dass alles wieder gutkommt. Solange diese Hoffnung und die Liebe zum Mann noch so stark sind, erduldet das Opfer vieles. Oft bleiben Frauen aber auch wegen der Kinder oder weil sie finanziell abhängig sind. In meiner Beratungstätigkeit habe ich erlebt, dass es ein langer Weg ist, bis sie die Situation nicht mehr schönreden oder bagatellisieren und sich von ihren gewalttätigen Männern trennen. Herausholen kann man sie nur, wenn sie das auch zulassen. Man muss ihnen immer wieder klarmachen, dass es nicht ausreicht, wenn sich der Mann für sein Verhalten lediglich entschuldigt.

Sie haben angesprochen, dass die Trennung für gewaltbetroffene Frauen eine der gefährlichsten Phasen ist. Wie müssen Fachleute – etwa Berater – vorgehen, um die Sicherheit der Opfer zu gewährleisten?
Eine sorgfältige Planung ist zentral. Denn die Gewalt hört nicht einfach auf nach der Trennung. Hat das Paar gemeinsame Kinder, macht das alles noch viel komplexer. In erster Linie gilt es, das Eskalationspotenzial des Mannes zu beurteilen. Das entscheidet auch darüber, wo die Frau und die Kinder am besten unterkommen, sei es bei Verwandten und Bekannten, in einem Frauenhaus in der Nähe oder vielleicht sogar in einem Frauenhaus, das weit entfernt vom Wohnort liegt. Wichtig ist auch, wie und wann der Mann erfährt, dass die Frau gehen will. Auf keinen Fall soll sie es ihm am Abend am Küchentisch sagen, sondern erst, wenn sie und ihre Kinder in Sicherheit sind. Es gibt tatsächlich auch Frauen, die untertauchen und sogar eine andere Identität annehmen müssen. Solche Fälle sind jedoch glücklicherweise die Minderheit. Die meisten Frauen schaffen es mit professioneller Unterstützung, sich zu befreien.

Nach Ihrer langjährigen Tätigkeit in der Frauenberatung und im Frauenhaus Winterthur engagieren Sie sich heute als Supervisorin. Mit welchen Herausforderungen sind Frauenhäuser aktuell konfrontiert?
Ein grosses Thema ist derzeit die Handyüberwachung. Dabei installieren Männer auf den Mobiltelefonen ihrer Partnerinnen Tracking-Programme, mit denen sie deren Aufenthaltsort jederzeit kontrollieren können. Die Installation erfolgt teils im Wissen der Frauen, häufig jedoch heimlich. Frauenhäuser sollten entsprechend darauf sensibilisiert sein, diese Programme zu erkennen und zu entfernen, sodass der Mann nicht nachvollziehen kann, wo sich die Frau aufhält. Die Adresse eines Frauenhauses muss in jedem Fall geheim bleiben, zum Schutz der Betroffenen und der Mitarbeitenden, die ebenfalls einem gewissen Risiko ausgesetzt sind.

Erste nationale Präventionskampagne lanciert

Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat am 11. November 2025 die erste nationale Präventionskampagne gegen häusliche, sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt lanciert. Gemäss Angaben des Bundes registrierte die Polizei im vergangenen Jahr 21'127 Straftaten im Bereich häuslicher Gewalt, sechs Prozent mehr als 2023. Das entspricht 40 Prozent aller polizeilich registrierten Straftaten. 70 Prozent der Opfer waren Frauen. Mehr als die Hälfte aller Tötungsdelikte in der Schweiz findet im häuslichen Umfeld statt.

Was hat sich politisch getan?
Mit Inkrafttreten des Opferhilfegesetzes 1993 haben Personen, die in der körperlichen, psychischen oder sexuellen Unversehrtheit unmittelbar beeinträchtigt werden, Anspruch auf Opferhilfe, einschliesslich Beratung und finanzieller Unterstützung. Dadurch hat sich vieles verändert. Nicht zuletzt auch das Bewusstsein bei den Behörden. Während die Polizei häusliche Gewalt früher häufig als Ehestreitigkeit abgetan hat, sind Beamte heute viel sensibilisierter auf dieses Thema. Ferner haben viele Kantone ein Bedrohungsmanagement aufgebaut, das es ermöglicht, in Gefährdungssituationen frühzeitig zu intervenieren. Ein grosser Schritt ist auch die Istanbul-Konvention, die in der Schweiz 2018 in Kraft getreten ist. Im Grunde hat sich vieles verbessert, aber es besteht noch Handlungsbedarf bei Prävention und Schutzmassnahmen.

Was muss sich ändern?
Es gibt nach wie vor grosse Lücken bei den Frauenhäusern. Gewisse Kantone führen bis heute keines. Zum Beispiel der Kanton Thurgau. Dort werden die Opfer einfach nach Winterthur oder Zürich geschickt. Entscheidend wäre auch, mehr in die Nachbetreuung zu investieren. So könnten Beratungsstellen gewaltbetroffene Frauen nach der Trennung besser dabei unterstützen, auf eigenen Beinen zu stehen. Denn oft kehren diese wieder zu ihren Männern zurück: sei es, weil sie um ihren Aufenthaltsstatus fürchten, keine Wohnung finden oder es ihnen ganz allgemein an Perspektiven fehlt. Zu guter Letzt gilt es, noch mehr bei den Tätern anzusetzen. Spezifische Trainingsprogramme erweisen sich dabei als wahrer Hoffnungsschimmer. In einem 16-wöchigen Gruppenprogramm setzen sich die Teilnehmer mit ihrem Verhalten auseinander. Sie lernen, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen und in Konfliktsituationen anders zu reagieren als mit Gewalt. Seit zwei Jahren gibt es ein solches Programm auch in St. Gallen.

Begeben sich die Männer freiwillig in solche Trainingsprogramme?
Kaum. Es braucht den Druck von aussen. Gerichte, Staatsanwaltschaften oder auch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden könnten eine Zuweisung machen. Hier gilt es, das Bewusstsein zu schärfen, denn diese Trainingsprogramme wirken sich sehr positiv aus. Die Gefahr, dass ein Mann, der daran teilgenommen hat, wieder zuschlägt, ist viel geringer als bei einem Mann, der keine Hilfe in Anspruch genommen hat.

Im CAS Traumapädagogik und Traumaberatung der OST – Ostschweizer Fachhochschule setzen sich Fachpersonen aus der Sozialen Arbeit, der Schule oder dem Gesundheitswesen mit den Ursachen und möglichen Folgestörungen von Traumatisierungen auseinander. Die Kursteilnehmenden werden befähigt, den Betroffenen traumasensibel zu begegnen und sie in ihrer individuellen Entwicklung bestmöglich zu unterstützen und zu fördern. Auch das Thema «Gewalt an Frauen» bildet in diesem Zertifikatskurs einen Schwerpunkt.

Ursula Ammann/OST
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