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Stadt St.Gallen
02.05.2025
02.05.2025 08:59 Uhr

Reglementierung und Zölle oder freie Hand der Wirtschaft

Beschwerde des Bürgermeisters und Rat von Lindau im Juli 1437. Getreide soll nur auf den dafür vorgesehenen Märkten verkauft werden
Beschwerde des Bürgermeisters und Rat von Lindau im Juli 1437. Getreide soll nur auf den dafür vorgesehenen Märkten verkauft werden Bild: StadtASG, Missive 96
Das Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde hat den Briefverkehr («Missiven») der Stadt St.Gallen von 1400 bis 1650 digital erfasst. Als «Missive des Monats» stellen wir Ihnen jeden ersten Freitag im Monat ein besonders interessantes Schriftstück vor. Heute zeigen wir, dass hohe Zölle nichts Neues sind.

Ob überhaupt oder wie stark die Politik die Wirtschaft regulieren soll, ist ein Dauerthema. Absolutistische Landesfürsten des 17. und 18. Jahrhunderts griffen dirigistisch in den Wirtschaftskreislauf ein: Unter anderem wurden Mindest- und Höchstpreise festgelegt, erfolgsversprechende Wirtschaftsbereiche in Monopole umgewandelt, und zum vermeintlichen Schutz der einheimischen Wirtschaft wurden Zölle erhoben – Donald Trump lässt grüssen.

Anhänger der von Adam Smith (1723 – 1790) in seinem Werk «Wohlstand der Nationen» begründeten klassischen Nationalökonomie vertreten demgegenüber die Meinung, der Staat sollte nicht regulierend ins Wirtschaftsgeschehen eingreifen, sondern sich auf die Sicherstellung der Landesverteidigung, der Rechtsprechung und bestimmter öffentlicher Einrichtungen beschränken.

Es ist spannend, im St.Galler Briefbestand zu entdecken, wie städtische Regierungen mit dem Thema Regulierung der Wirtschaft umgingen. Der folgende Brief vom 21. Juli 1437, welcher vom Lindauer Stadtrat an die Kollegen in St.Gallen gerichtet war, zeigt, wie Obrigkeiten auf die Situation von Versorgungsengpässen reagierten. Die Lindauer beschwerten sich bei den St.Gallern, deren Kornhändler würden sich nicht an die Abkommen halten und ihr Getreide in den nicht konzessionierten «Winkelorten» kaufen.

Die St.Galler wurden angehalten, ihre Kaufleute zurechtzuweisen. Denn wenn die Kornkäufe in die Dörfer verlegt würden, hätte das negative Folgen für die Städte und das Land. Aus dieser Missive sprechen einerseits Eigennutz Lindaus und andererseits aber auch reale Bedenken um die Sicherstellung der Landesversorgung.

Berechtigte Ausfuhrhäfen und Winkelorte gemäss einer Untersuchung zum Getreidemarkt am Bodensee im 18. Jahrhundert Bild: Frank Göttmann

Dass die Lindauer durchaus eigennützige, städtische Interessen vertraten, geht daraus hervor, dass sie massiv gegen Winkelorte und -häfen vorgingen. Der Wortbestandteil «Winkel» ist abschätzig gemeint und hat sich beispielsweise noch heute im Wort «Winkeladvokat» erhalten.

Im Winkel Handel zu treiben heisst im Verborgenen, illegal oder halblegal handeln. Winkelorte waren Märkte und Häfen, auf denen ohne Erlaubnis der Herrschaft gehandelt und per Schiff vom Deutschen ans Schweizer Ufer exportiert wurde.

Die Lädine ist ein historisches Lastensegelschiff, das etwa 500 Jahre lang auf dem Bodensee genutzt wurde und ähnlichen Schiffstypen auf mitteleuropäischen Binnengewässern gleicht. Einer der letzten Lädinen auf dem Bodensee und eines der ersten eisernen Kiesschiffe mit Dieselmotor am Lagerplatz von Immenstaad. Gemalt von Gustav Levering vor 1921 Bild: Wikimedia Commons

Dies sorgte für Konflikte, denn seit dem Spätmittelalter existierten Hierarchien unter den exportierenden Städten. Überlingen, Bregenz, Lindau, Friedrichshafen (ehemals Buchhorn genannt), Konstanz und Radolfzell gehörten zu den wichtigsten Getreideausfuhrorten. Sie waren es gewohnt, den Wirtschaftsraum Bodensee als ihr Interessengebiet anzusehen und mit Vereinbarungen unter sich aufzuteilen sowie gegen Konkurrenten zu verteidigen.

Der Grund dafür waren Einnahmen aus dem Handel: Aus dem Getreideverkauf wurde ein Grossteil der Ausgaben einer Stadt bestritten. Die Winkelorte oder -häfen hingegen waren nicht in das System von Abgaben an die Landesherren, welche von den Städten für die Konzessionserteilungen Zahlungen verlangten, eingebunden. Und auch die innerstädtischen Gebühren fielen weg: Die Winkelorte operierten mit Dumpingpreisen. Dagegen kämpften die traditionellen Ausfuhrorte im eigenen, vitalen Interesse an.

Im städtischen Museum in Kornhaus in Bad Waldsee befindet sich das Bild „Der St. Galler Bote – Getreidetransport auf dem Landweg“ (1837) mit folgender Bildlegende: «Ich fahre nach sanct Gallen, Da thut es mir gefallen, Wenn ich hab gute Frucht, So fahr ich fröhlich bei Regen und Nacht. Alois Lämmle.» Bild: Stefan Sonderegger

In der Missive wird nebst dem Schaden durch den Winkelhandel für die Städte auch der Schaden für das Land erwähnt. War das ein Vorwand, oder lässt sich dahinter ein durchaus berechtigtes Argument im Sinne der obrigkeitlichen Sicherstellung der Landesversorgung erkennen?

Für die Redlichkeit spricht das Datum der Missive: 1437 war ein Hungerjahr mit der Folge einer massiven Teuerung. Damit die Bevölkerung trotzdem einigermassen versorgt werden konnte, wurden Höchstpreise festgesetzt, Vorräte aus den öffentlichen Kornspeichern zur Preisdämpfung angeboten und der Wucher bekämpft. Wuchereinkäufe wurden getätigt, um das Getreide so lange zu horten, bis eine Mangellage eintraf und die Waren zu übersetzten Preisen verkauft werden konnte. Die Gefahr von Hortungskäufen bestand dort, wo keine behördliche Überwachung vorhanden war: in Winkelorten.

Es gab aber noch ein weiteres Argument für den Schutz der konzessionierten Ausfuhrhäfen gegenüber den Winkelhäfen. Auch wenn Lindau verglichen mit eidgenössischen Städten wie Zürich oder Bern kein grosses eigenes politisches Territorium hatte, war der wirtschaftliche Einfluss auf die Landschaft gross.

Im Jahr 1473 erbauten Gredhaus in Steinach wurden Güter – vor allem Getreide – aufbewahrt und verzollt, die über den See in die Ostschweiz gelangt waren. Das Gredhaus ist ein starkes Symbol des über Jahrhunderte gepflegten Austausches über den Bodensee Bild: Daniel Studer

Über die grösseren Städte am Bodensee wurde die Ausfuhr des im Hinterland produzierten Getreides organisiert. Insofern hatten diese Ausfuhrstädte eine wichtige Funktion auch für die Versorgung der Importgebiete wie die Ostschweiz. Denn die konzessionierten Marktstädte waren im eigentlichen Sinne sichere Orte, weil sie im Gegensatz zu den Winkelhäfen befestigt waren.

Dieses Argument nutzten sie auch noch in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund des Dreissigjährigen Krieges im 17. Jahrhundert gegenüber den Winkelorten: Bei unmittelbarer Feindesgefahr sollte das am See gelagerte Korn in den festen Orten Konstanz, Überlingen, Schloss Langenargen, Lindau, Bregenz sowie Radolfzell und gegebenenfalls in der Schweiz in Sicherheit gebracht werden.

Diese Missive aus dem 15. Jahrhundert zeigt, dass es wie überall auch in der Wirtschaftspolitik nicht einfach schwarz oder weiss gab. Auch heute gibt es Bereiche, die nicht einfach der Wirtschaft überlassen werden können. Dazu gehört mit Sicherheit die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln.

Die erwähnte Missive Nr. 96 ist abrufbar unter: missiven.stadtarchiv.ch

Alle Missiven finden Sie hier: missiven.stadtarchiv.ch

Literatur

  • NZZ am Sonntag: Die Klassiker der Wirtschaftstheorie, Nr. 1, Adam Smith.
    Frank Göttmann: Winkelmärkte und Winkelhäfen. Zur Regelung des Kornhandels am Bodensee im 18. Jahrhundert.
  • Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Mittelalter. 1150 – 1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft, Köln/Weimar/Wien 2014.
  • Stefan Sonderegger: Historischer Überblick, in: Mittelalter am Bodensee. Wirtschaftsraum zwischen Alpen und Rheinfall, hrsg. v. Amt für Archäologie des Kantons Thurgau, Frauenfeld 2021, S. 12-29. Sonderegger_Mittelalter_am_Bodensee (PDF, 1 MB)
Stefan Sonderegger
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