Karl Weilbach, in letzter Zeit gab es einige Berichte über Angriffe im öffentlichen Raum. Unter anderem hat im vergangenen Jahr ein Mann in St.Gallen fünf Personen mit einer Machete verletzt, darunter eine schwangere Frau und ein Kleinkind. Ist das nicht ein sehr bedrohliches Zeichen für die Gesellschaft?
Im Vergleich zu Gewalt- und Tötungsdelikten im häuslichen Bereich oder zu Femiziden sind solche Angriffe zum Glück selten. Dennoch sind sie schwerwiegend, denn sie zielen auf Schädigung, Verletzung oder gar Tötung ab. Die willkürliche Opferwahl hat etwas sehr Erschreckendes. Berichte über Angriffe auf Kinder, Frauen und Schwangere gehen ganz besonders unter die Haut – und sie haben Einfluss auf unser aller Sicherheits- beziehungsweise Unsicherheitsgefühl.
Was bringt Menschen dazu, Personen anzugreifen, die sie gar nicht kennen?
Im Fall des Machetenangriffs ist das Motiv des Täters noch nicht öffentlich bekannt. Oft ist es jedoch so, dass die angegriffenen Menschen eine Sündenbockfunktion haben und als Projektionsfläche dienen, weil sie das verkörpern, was die Täter vernichten wollen. Letztere machen andere verantwortlich für die Unzulänglichkeiten des eigenen Lebens, für das eigene Versagen. So übertragen sie ihr verzerrtes Selbst- und Weltbild auf ahnungslose Opfer, sind getrieben von Neid und sozialen Ängsten – etwa der Angst, aus sozialen Gemeinschaften ausgeschlossen oder «abgehängt» zu werden.
Zusehen zu müssen, wie andere Glück, Zugehörigkeit, Leichtigkeit oder Privilegien leben, also etwas, das ihnen selbst abhandengekommen ist, empfinden sie als unerträglich. Der Aggressionsakt ist quasi eine Botschaft, dass die Welt ungerecht ist und dass Schluss sein soll mit dem eigenen Leiden an Verlust, Scheitern oder Versagen. Schweren Gewalttaten von Einzelnen geht meist ein starkes Kränkungserleben voraus, das die Person notfalls durch die Anwendung von Gewalt zu kompensieren versucht.
Gibt es typische Auslöser, die das Fass zum Überlaufen bringen?
Jede Tat ist ein Einzelfall, dessen Ursachen und Auslöser näher untersucht werden müssen. Auch Persönlichkeit, Motive und Anlässe sind unterschiedlich. Schweren Gewalttaten von Einzelnen geht aber meist ein starkes Kränkungserleben voraus, das die Person notfalls durch die Anwendung von Gewalt zu kompensieren versucht.
Gemäss dem amerikanischen Soziologen und Kriminologen Jack Katz folgt auf das Gefühl, gedemütigt worden zu sein, das Bedürfnis, die beschädigte Identität zu «verteidigen» und die Gewaltanwendung sogar moralisch zu rechtfertigen und zu verklären. Der Täter hält sein Handeln für notwendig und nimmt für sich in Anspruch, etwas «Gutes» zu tun. Er wähnt sich im Recht, seine Gegner angreifen und vernichten zu dürfen. Das war auch das Mindset des Zuger Attentäters im Jahr 2001, über den ich meine Dissertation geschrieben habe.
Was offenbart das Zuger Attentat über das Innenleben von Personen, die eine schwere Gewalttat begehen?
Die Beschäftigung mit dem Attentäter von Zug zeigte unter anderem drei Entwicklungsstadien auf, die dazu führen, dass jemand die Tötungshemmung, die uns Menschen innewohnt, verliert: die Ebene der Interpretation, die Ebene der Transformation und die Ebene des Handelns. Zuerst interpretiert der spätere Täter bestimmte Umstände, soziale Vorgänge oder Verhaltensweisen seiner Mitmenschen höchst subjektiv. Dabei nimmt er an, dass andere – ob Einzelpersonen oder Zugehörige spezifischer Gruppen – ihn persönlich gekränkt oder gedemütigt hätten. Er glaubt, seine Identität und seine Werte verteidigen zu müssen, und wandelt das Erleben von Demütigung und Kränkung in eine nach aussen gerichtete Wut um.
Er will sich wehren, sieht sich als Verteidiger seiner verletzten Identität und seiner moralischen Vorstellungen. Mit dieser Transformation der Demütigung in Wut stellt er für sich einen vermeintlichen Ausgleich und eine Einheit mit etwas Sinnhaftem her. Schliesslich entwickelt er ein gewaltsames Verteidigungs- respektive Vergeltungsprojekt. Er fordert den aus seiner Sicht gebührenden «Respekt» durch Gewalt ein und führt – geplant und kalt – sein aggressives Vorhaben durch: gezielt schädigend, völlig mitleidlos und womöglich bis hin zur Tötung seiner vermeintlichen Gegner oder der auserwählten Sündenböcke.