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Stadt St.Gallen
17.03.2024
24.03.2025 09:15 Uhr

Mit dem Tataren-Schlatter im «südlichen Ruβland», Teil 1

Reisewagen in der südrussischen Steppe
Reisewagen in der südrussischen Steppe Bild: Archiv
Vor rund 200 Jahren bereiste der Stadt-St.Galler Kaufmann Daniel Schlatter das «südliche Russland». Als sich Schlatter dort aufhielt, war die Gegend der heutigen Ukraine grösstenteils ein blühendes Land. Ernst Ziegler hat die Reisen des «Tataren-Schlatters» zu Orten, die uns sehr bekannt vorkommen, nachgezeichnet. Heute: Der Aufbruch.

Zu den Kostbarkeiten meiner Büchersammlung gehört der 1830 in St. Gallen erschienene, über 500 Druckseiten umfassende, illustrierte Band mit dem Titel «Bruchstücke aus einigen Reisen nach dem südlichen Ruβland, in den Jahren 1822 bis 1828, Mit besonderer Rücksicht auf die Nogayen-Tataren am Asowschen Meere». Verfasst hatte das Werk Daniel Schlatter (1791-1870), und er widmete es «dem Tataren Ali-Ametow und dessen Sohn Abdullah zu dankbarem Andenken» im August 1829.

UKRAINE

Mit dem «südlichen Russland» bezeichnete Schlatter jenes weite Land zwischen Dnjestr und Dnjepr sowie zwischen Donez und Don, zwischen Odessa und Cherson bis Donezk, Bachmut und Lugansk sowie von Charkow und Poltawa bis und mit der «Nogaischen Steppe», der Krim und dem Asowschen Meer.

Diese und andere Namen hören, sehen und lesen wir täglich im Zusammenhang mit dem verheerenden Krieg in der Ukraine. Als sich Schlatter dort aufhielt, war die Ukraine zu grossen Teilen ein blühendes Land.

DANIEL SCHLATTERS REISE

Daniel Schlatter wurde 1791 in St. Gallen geboren, machte eine Lehre als Kaufmann, arbeitete als «Handlungscommis» in seiner Vaterstadt und lernte fleissig neue Sprachen. Er gehörte nicht zu jenen tüchtigen, unternehmungslustigen Kaufleuten unserer Stadt, die des Handels wegen in der Welt herumreisten. Nach eigenen Worten war seine Absicht, «einem frühe gewurzelten und lange genährten Trieb zu Reisen und zu Abentheuern ein Genüge zu thun». So brach er 1822 nach Russland auf und verliess am 7. März die Schweiz.

Seine Beschreibung der langen Reise durch die «Rheingegend» und die «Niederlande» nach London, seine «Fahrt nach Hamburg» und von Berlin nach Königsberg ist eine wahre Lesefreude und wäre wohl wert, hier ausführlich behandelt zu werden.

Marienburg, um 1900 Bild: Archiv

In Marienburg in Westpreussen hielt sich Schlatter einige Tage auf, «um Erkundigungen über die südlichen Gegenden Ruβlands einzuziehen, weil von hier jährlich mehrere Familien dorthin auswandern, besonders von den Mennoniten oder Taufgesinnten».

Die Mennoniten waren eine im 16. Jahrhundert entstandene Religionsgemeinschaft, die in den Niederlanden und in Westpreussen vor ihrer Verfolgung Zuflucht fanden. Im 18. und 19. Jahrhundert wanderten dann viele Mennoniten auch nach Russland aus. (Von ihnen wird noch die Rede sein, weil sie Schlatter in seinem Werk verschiedentlich erwähnt und ihnen ein mehrseitiges Kapitel widmet.)

Über Königsberg erreichte Schlatter Memel und kam beim Flecken Polangen im damals russischen Gouvernement Kurland an die Grenze. «Die Kosaken öffneten den Schlagbaum, und ich war in Ruβland...» – Weiter ging es über Riga, St. Petersburg nach Moskau, Tula, Orel, Kursk, Charkow nach Jekaterinoslaw (heute Dnipro), der Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements.

Im langen Kapitel über «Neu-Ruβland» beschreibt der mutige «Kaufmannsdiener» aus St.Gallen eine Reise mit der «Extrapost». Ihm wurde «ein bewaffneter Postoffiziant beigegeben», der nicht Deutsch konnte und «selten nüchtern war». Schlatter schreibt: «Von der Schnelligkeit, mit welcher man in dem gröβten Theil von Ruβland mit Postpferden reist, hat man in Teutschland keine Vorstellung; es gehen aber auch der Pferde genug zu Grunde, und selbst der Reisende läuft beständig Gefahr, den Hals zu brechen. Von dem Hemmen des Rades weiβ man nichts. Mit den schwersten Reisewagen fährt man im schnellsten Gallop Berg auf und ab und über Graben und Löcher.»

Daniel Schlatter Bild: Archiv

Zwischen Jekaterinoslaw (Dnipro) und Aleksandrowsk (Saporischschja) lag damals das «teutsche Dorf der sogenannten Chortitzer-Kolonie, mit Namen Neuenburg». Diese Kolonie wurde «1789 von mennonitischen Siedlern aus Westpreuβen gegründet»; Neuenburg war eines der kleinsten der etwa zwanzig Dörfern dieser Kolonie. Der Hauptort des Gebiets war Chortitza, wo «in einem eigens dazu errichteten kleinen Gebäude das schöne Privilegium der Mennoniten aufbewahrt» wird, welches von der Kaiserin Katharina II. (1729-1796) erteilt und von Kaiser Paul I. (1754-1801) bestätigt wurde. In diesem Gnadenbrief steht unter anderem, die Mennoniten seien «nach dem Zeugnisse ihrer Aufseher, wegen ihrer ausgezeichneten Arbeitsamkeit und ihrem geziemenden Lebenswandel den übrigen dort angesiedelten Kolonisten zum Muster» vorzuhalten.

Von Neuenburg aus ging es weiter, und Schlatter überquerte bei einem Dorf, Einlage genannt, den Dnjepr. Er kam in die russische Kreisstadt Alexandrowsk. Durch die Kolonie Schönwiese und die deutsche Kolonie Grünenthal gelangte er schliesslich in die Kolonie Molotschna und nach Halbstadt, «dem Hauptorte des Mennoniten-Gebiets». Er kam dann durch mehrere Dörfer, «deren Namen sämmtlich aus Preussen entlehnt sind». Diese Dörfer zeichneten sich, nach Schlatter, «durch gute Bauart und sichtlichen Wohlstand» aus.

Am 27. Juli 1822 langte Daniel Schlatter «in dem den Nogayen-Tataren von dieser Seite am nächsten gelegenen teutschen Dorfe Ohrlof an». In Orlowe, im Rajon Melitopol, war er «von St. Petersburg aus an einen begüterten, in öffentlichem Amte stehenden, wackern Mann empfohlen, welcher seit vielen Jahren in Geschäftsverbindung mit den benachbarten Nogayen-Tataren stand». Dieser bedeutende deutschstämmige Mennonit war vermutlich Johann Cornies (1789-1848).

«Gastfreundlich ward ich», schwärmte Schlatter, «von ihm aufgenommen, als sich eben ein Nogaye bei ihm befand, dem er erzählte, wer ich sei, woher ich käme und daβ mein Wunsch wäre, die Tataren und ihre Sprache kennen zu lernen. Sogleich lud mich der Tatar ein, bei ihm zu wohnen; sogleich auch nahm ich den Vorschlag an, und von da an blieb ich dann auch bei diesem Biedermanne. Er heiβt Ali. Sein Vater hieβ Ametow.»

Lesen Sie im Teil 2 am nächsten Wochenende: Im Land der Tataren.

Literaturempfehlung:
Kälin, Ursel: Die Kaufmannsfamilie Schlatter - ein Überblick über vier Generationen, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Band 48, 1998, Heft 3, S. 391-408.

Ernst Ziegler, ehem. St.Galler Stadtarchivar
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