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Sport
03.04.2023
04.04.2023 19:42 Uhr

«Es ist mir unangenehm, wenn man mich Profi nennt»

Aussenverteidigerin in Zürich und der Nati: Nadine Riesen.
Aussenverteidigerin in Zürich und der Nati: Nadine Riesen. Bild: Simea Rüegg
Die Niederteufenerin Nadine Riesen hat es geschafft: Sie feierte mehrere Siege mit St.Gallen, den Young Boys, Zürich und der Nationalmannschaft. Im grossen Interview spricht die 22-Jährige über den Unterschied zum Männerfussball, ihre Karriere und die Europameisterschaft 2025.

Nadine, wie sieht Dein Alltag als Fussballerin aus?

Ich arbeite in Bern in einer Tagesschule als Kinderbetreuerin – jeweils von 11 bis 14.30 Uhr. Dann nehme ich den Zug, damit ich um 17 Uhr in Zürich bin. Fitness und Fussballtraining mit der Mannschaft stehen dann auf dem Plan.

Du bist also nicht Fulltime-Fussballerin …

Nein, ich bin in einem 30-Prozent-Pensum angestellt. Das ist optimal, um jeweils am Morgen ein individuelles Krafttraining zu absolvieren. Ausserdem habe ich am Mittwoch meinen freien Arbeitstag und kann in Zürich ein Einzeltraining machen. Dort fokussiere ich mich auf die Schnelligkeit, meiner Stärke, wo ich noch mehr herausholen will. Und am Wochenende stehen schliesslich die Meisterschaftsspiele an.

Was auch dazu kommt, sind regelmässige Zusammenzüge im Nationalteam. Dann bin ich mehrere Tage weg, wobei mir mein Arbeitgeber sehr entgegenkommt.

Du warst sechs Jahre alt, als Du mit Fussball angefangen hast. Wusstest Du schon damals, dass Du Profi werden möchtest?

(lacht) Nein, ich bin ganz ehrlich: Ich weiss bis jetzt noch nicht, wie ich hierhin gekommen bin. Ich hatte immer Freude am Sport und verlor nicht gerne. Wenn ich etwas mache, dann mache ich es zu 100 Prozent – das hat mich extrem angespornt. Manchmal bin ich morgens um fünf Uhr aufgestanden, um noch Joggen zu gehen vor der Arbeit. Bei solchen Dingen kann ich sehr verbissen sein. Aber ich mache es einfach, weil ich es gerne mache, und nicht, weil mich jemand dazu zwingt.

Was sind Deine Ambitionen und Ziele im Fussball?

Ich schaue immer Schritt für Schritt. Sicher will ich immer die Freude beibehalten. Und wenn diese bleibt, dann richte ich mich an meinen Leistungen. Da denke ich nicht so gerne ‘Hey, ich will jetzt nach England’. Wenn meine Leistungen nicht mehr stimmen, ist es nicht fair, dass ich so weit denke. Aber ja: England wäre schon ein Traum.

«Man braucht 24 Punkte, um nach England zu gehen.»

Und wie kommt man nach England?

Man braucht 24 Punkte, um nach England zu gehen. Denn das Land gehört ja nicht mehr zur EU. Mit diesen 24 Punkten ist es schwierig: Man kriegt sie durch Titel, Champions-League-Spiele, Nati-Aufgebote und -Einsätze. Ich überlege mir da lieber kurzfristige Ziele. Der Fokus liegt auf dem nächsten Spiel. Ich will meine Schnelligkeit, Ausdauer und jeweilige Trainingsleistung verbessern. Wenn ich gut performe, dann kann ich zufrieden sein und weiter hart an mir arbeiten.

Langfristige Planung wird ohnehin schwierig, wenn man durch Verletzungen zurückgeworfen wird – im Frauenfussball leider keine Seltenheit. Hattest du bereits damit zu kämpfen?

Ich habe mir einmal das Innenband gerissen und fiel drei Monate aus. Es gibt viele Verletzungen im Fussball. Mit der heutigen Prävention vor Trainings und Spielen haben wir auch in diesem Bereich grosse Fortschritte erzielt. Ich denke, es hat viel damit zu tun, wie man sich einwärmt und im Kopf bei der Sache ist. Und dennoch – es gibt solche, die haben eine Pechsträhne und mehrfache Kreuzbandrisse hinter sich. Ich wünsche es niemandem.

Zurück zum Positiven: Was war Dein persönliches Highlight bisher?

Auf den Verein bezogen war es das Cupfinal. Es war mein erster Titel zu Hause im Letzigrund vor etwa acht Tausend Fans. So etwas vergisst man nie mehr. Allerdings verbindet mich auch mit dem Bühler noch viel. Dort feierte ich erste Meistertitel und Cupsiege. Das waren kleine Erfolge, aber die schätze ich ebenso sehr. Dann war da noch der Aufstieg mit St.Gallen, die EM im letzten Jahr und der Meistertitel mit Zürich – das war alles verrückt.

  • Vom FC Bühler wechselte Nadine Riesen 2015 nach St.Gallen ... Bild: zVg
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  • ... ging vier Jahre später nach Bern ... Bild: zVg
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  • ... ist seit 2021 bei Zürich unter Vertrag ... Bild: zVg
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  • ... und spielte für die Schweiz im U19- sowie A-Team jeweils an einer EM. Bild: zVg
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In der Schweiz kommt man vom Frauenfussball allein nur selten über die Runden. Beschäftigt Dich das im Alltag?

Ich habe mich ein wenig damit abgefunden. Manchmal habe ich zwar schon schwierigere Phasen, wenn ich die offenen Rechnungen sehe und schauen muss, wie ich diese begleiche. Ich bin überzeugt, dass sich der Frauenfussball jedoch auch in finanzieller Hinsicht weiterentwickelt. Es hat sich auch schon einiges getan: Vor vier Jahren hatte ich beispielsweise noch gar keinen Vertrag, jetzt habe ich einen und bekomme ein wenig Lohn. In Zürich haben wir zudem eine gute Infrastruktur. Wir werden auf dem Papier als «Vollprofis» bezeichnet, jedoch müssen alle meine Teamkolleginnen nebenbei arbeiten. Deswegen ist es mir unangenehm, wenn mich jemand Profi nennt. Ich sehe mich noch nicht wirklich als Profifussballerin.

«Manchmal habe ich schon schwierigere Phasen, wenn ich die Rechnungen sehe.»

Es besteht also noch Handlungsbedarf im Schweizer Frauenfussball. Wie kann er gefördert werden?

Es ist immer schwer, weil man den Frauenfussball stets mit dem Männerfussball vergleicht. Der Frauenfussball ist sehr gut, aber die Schnelligkeit kann man nicht mit den Herren vergleichen. Trotzdem machen das viele und das ist sehr schade. Ich denke, der finanzielle Aspekt braucht sicher Zeit, denn zu Beginn haben auch die Männer nichts am Fussball verdient.

Eine nachhaltige Wirkung hätte es, wenn die EM 2025 in der Schweiz stattfinden würde – das würde boomen und ein grosses Ausrufezeichen setzen. So könnten wir die junge Generation noch mehr mitziehen. An unsere FCZ-Spiele kommt bereits eher die jüngere Generation und man sieht, dass sie Freude am Frauenfussball hat.

Das Nationalteam ist ein Aushängeschild – und Du bist ein Teil davon. Was bedeuten Dir Deine Einsätze dort?

Die Nati-Einsätze sind mir schon wichtig und erfüllen mich mit grossem Stolz. Es ist eine Riesenehre, dabei sein zu dürfen. Und wenn ich spielen darf, sehe ich darin eine gewisse Art von Vertrauen der Trainerin. Sie will mich sehen und glaubt an mich. Der Gedanke, dass mein Niveau nicht schlecht ist, ist schon toll.

Wie schaffst Du es regelmässig ins Nati-Aufgebot?

Ich glaube, man muss konstant gute Leistungen bringen im Verein. Und wenn man danach in der Nati aufgeboten ist und dort gut spielt, hinterlässt man Eindruck.

Gibt es dort einen grossen Konkurrenzkampf?

Das ist schwierig zu sagen: Konkurrenzkampf gibt es immer, weil schlussendlich will jeder in der Nati spielen. Im Verband selbst gibt es das weniger. Dort weiss man, dass man gut performen muss, unabhängig von der Leistung anderer.

Nichtsdestotrotz scheinen Deine Leistungen zu stimmen: Du konntest an der EM 2022 in England spielen.

Ja, ich kam im Gruppenspiel gegen Schweden für 30 Minuten zum Einsatz. Das war sehr positiv. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass ich überhaupt zu Einsatzzeit komme.

Diese EM brachte noch mehr Aufschwung in den Frauenfussball und übertraf Zuschauerrekorde. Wie hast Du das erlebt?

Es war sehr gut und die Stimmung war schon verrückt. Schlussendlich vergisst man aber alles, wenn man auf dem Platz steht und voll fokussiert ist. Trotzdem wird man durch den Lärm der Fans natürlich gepusht.

  • Riesen wärmt sich vor dem EM-Spiel gegen Schweden ein ... Bild: Zoe Rüegg
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  • ... umgeben von einem gefüllten Stadion. Bild: Zoe Rüegg
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Nun steht im Sommer mit der WM 2023 der nächste Grossanlass an. Was sind die Ziele?

Ich hoffe sicher, dass ich dabei bin und arbeite hart für dieses Ziel. Ich will meine Leistung konstant erbringen und zeigen, dass ich an die WM gehöre; dass sie mich brauchen und ich unverzichtbar für die Nati bin.

Für die Schweiz ist die Gruppenphase sehr wichtig. Unser Wille ist sehr gross und dann ist noch viel mehr möglich. Man sagt immer, die Schweiz sei klein und fein, aber ich glaube, wenn wir wollen, können wir bis ins Viertelfinal kommen – da bin ich zuversichtlich.

Du hast es bereits kurz angesprochen: Die Schweiz kandidiert als Gastgeberland für die EM 2025.

(strahlt) Das wäre sehr besonders. Ein Heimturnier ist das Beste. Die U19-EM im Jahr 2018 war hier, das war extrem schön, mit Verwandten und Freunden so nah. Wir alle und der Frauenfussball wurden einmal so richtig gesehen von der Schweiz. Wenn das A-Team die Heim-EM hat, ist der Fokus noch mehr da. Das ist ein Event. Die Schweiz bietet Sicherheit, ein gutes ÖV-Netz und Stadien. Es ist es nur schade, dass die Stadien nicht so viele Zuschauerplätze haben. Aber wenn die EM hier ist, wird überall Werbung gemacht und der Frauenfussball kann davon profitieren.

St.Gallen wäre einer der Austragungsorte …

Das ist ein Kindheitstraum, einmal im Kybunpark zu spielen. Wenn man aus der Ostschweiz kommt, ist es egal, in welchem Stadion man spielt und wie toll es ist: Es wäre sehr schön, einmal im Kybunpark zu spielen.

Schweizer Nati und FC Zürich: Du spielst Fussball auf dem höchsten Level. Was ist die wichtigste Fähigkeit, um sich durchzusetzen?

Es braucht sicherlich einen gewissen Ehrgeiz und Wille. Für mich aber auch Freude: Ich bin jemand, der vieles an der Freude misst. Und am meisten Freude habe ich, wenn ich 100 Prozent gebe und gewinne. Ausserdem braucht es ein gesundes Selbstvertrauen. Das bekomme ich unter anderem durch Einsätze, die mir klarmachen: Ich bin nicht ohne Grund hier.

Spielst Du in Zukunft lieber im Ausland oder in der Schweiz?

Ich ziehe beides in Betracht. Die Entwicklung in der Schweiz finde ich sehr schön; zum Beispiel wurde ich letztens in der Stadt erkannt. Wenn die kleinen Kinder so zu einem hochschauen, ist das toll und ich kriege das mit. Wenn man ins Ausland geht,  kann man oftmals als Profi leben. Auf der anderen Seite ist ein Gehalt von wenigen Tausend Euro auch nicht gerade ein Profidasein. Dann kann ich ebenso hier bei meiner Familie bleiben.

«Wieso kann ich nicht auch eine Fabienne Humm sein?»

Sie blieb bei Zürich, ging nie ins Ausland, spielt in der Nati und arbeitet hier Vollzeit. Gleichzeitig wäre es auch super, eine Noelle Maritz zu sein, die bei Wolfsburg war und nun bei Arsenal spielt … Ich glaube, dass sich für mich eines nach dem anderen ergeben wird.

Was wünschst Du Dir für den Frauenfussball?

Ich denke, die Aufmerksamkeit könnte noch ein wenig höher sein. Die kann man nicht erzwingen, aber man kann mehr Werbung machen und die Spiele zum Beispiel im Fernsehen übertragen. Mich freuen auch kleine Schritte, wie beispielsweise, dass der FC St.Gallen und viele weitere Vereine mit den Frauen eine Instagramseite haben. Das kann ausschlaggebend sein und den Fussball weiterbringen. Das Engagement muss von allen kommen.

Was macht Dich am meisten stolz?

Ich habe immer gesagt, ich will Freude haben am «Tschutten». Ich bin stolz, dass ich dem immer treu geblieben bin und dahinterstehe – ohne, dass ich es je unfreiwillig gemacht habe.

Double-Siegerin und EM-Debütantin

Nadine Riesen kam am 11. April 2000 zur Welt und wuchs in Niederteufen AR auf. Im Alter von sechs Jahren begann sie beim FC Bühler Fussball zu spielen, blieb bis 2015 dort und absolvierte Trainings beim OFV. Mit zwei Juniorinnen-Cupsiegen im Gepäck wechselte sie zum FC St.Gallen, wo sie auf Anhieb als 15-Jährige in der ersten Liga spielte.

Nach dem Lehrabschluss als Dentalassistentin blieb Riesen ein weiteres Jahr in St.Gallen, trainierte viermal pro Woche, schaffte den Wiederaufstieg in die NLA und wechselte im Sommer 2019 zu den BSC Young Boys. Zwei Jahre später zog es sie zu den FC Zürich Frauen, wo sie sogleich das Double (Schweizer Meister und Schweizer Cup) gewann und Champions League-Einsätze hatte.

Die Aussenverteidigerin durchlief die U-17-Nationalmannschaft und nahm mit der U-19 an der Heim-EM teil. Vor drei Jahren debütierte sie im A-Team und kam zu einem Teileinsatz an der EM 2022.

Simea Rüegg/stgallen24
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