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Wirtschaft
20.06.2021

Wie aus der Not eine Tugend wird

Petra Kugler, Institut für Unternehmensführung an der OST
Petra Kugler, Institut für Unternehmensführung an der OST Bild: Marlies Thurnheer
Was früher nur in einzelnen Betrieben möglich war, wurde mit dem ersten Lockdown quasi über Nacht staatlich verordnet: das Homeoffice. Wie sind die Erfahrungen mit flexiblen Arbeitsmodellen bei Ostschweizer Unternehmen – und bleiben sie auch künftig so?

«Mitarbeiter wollten schon vor der Pandemie flexibler arbeiten, als es die Unternehmen tatsächlich anboten», fasst Petra Kugler vom Institut für Unternehmensführung an der OST die Ergebnisse ihrer ersten Befragung von Angestellten und Unternehmen vor der Pandemie zusammen. Die Aussagen stammten von Mitarbeitern aller Branchen, aller Unternehmensgrössen, aller Hierarchiestufen und aller Generationen. «Oft waren es die Unternehmen, die zögerten, ein solches System zuzulassen. Denn es gab wenig Erfahrung mit den Modellen und gefühlt weniger Kontrolle über die Angestellten », erklärt Kugler.

Hybride Arbeitsmodelle gewünscht

Die Erkenntnisse, die Kugler aus der ersten Befragung von Angestellten erhielt, bestätigten sich bei der zweiten Befragung während des ersten Shutdowns im April und Mai 2020: «Obwohl viele Unternehmen noch keine oder wenig Erfahrung mit flexibler Arbeit hatten, wurden erstaunlich viele positive Erfahrungen gemacht», hält Kugler fest. «Die Befragten nahmen vor allem eine Steigerung von Produktivität und Effizienz, aber auch Zeitersparnis, mehr Selbstbestimmung und mehr Ruhe zum Arbeiten wahr», so Kugler.

Doch braucht flexibles Arbeiten auch Veränderungen und neue Rollen: «Es fehlen etablierte Strukturen, welche die Arbeit erleichtern und der – vor allem informelle – Austausch mit den Kollegen», so Kugler. «Führung scheint insgesamt in der Menge abzunehmen und einen neuen Charakter zu erhalten», stellt Petra Kugler fest. Die Befragten waren vor allem gut ausgebildete Personen in Wissensberufen, etwas weniger klar sind die Aussagen z.B. zu handwerklichen Berufen. «Die meisten Befragten wünschen sich ein hybrides Arbeitsmodell mit zwei bis drei Tagen Homeoffice pro Woche, welches das Beste aus beiden Welten vereint», fasst Kugler zusammen.

Digitalisierungsschub am Ostschweizer Kinderspital

Wie sieht es nun konkret mit flexibler Arbeit aus? Das Ostschweizer Kinderspital etwa musste sich wie andere Unternehmen beim ersten Lockdown quasi über Nacht neu organisieren – Homeoffice war nur für die Administration vollständig umsetzbar, und dort bestand diese Möglichkeit bereits vor der Pandemie. «‹Dank› Corona gab es aber in allen Bereichen einen Digitalisierungsschub», erklärt Gudrun Haager, Leiterin Organisationsentwicklung bei der Stiftung Ostschweizer Kinderspital. «Wir mussten uns in kurzer Zeit digital organisieren und neu aufstellen», so Haager. So gehörten Videokonferenzen zur neuen Tagesordnung, und Rapporte von Ärzteteams wurden «hybrid» abgehalten – mit Ärzten vor Ort und weiteren Beteiligten via Videotelefonie, um die Vorgaben des BAG zu erfüllen. «So schaltete sich ein Arzt oder eine Pflegefachperson vom Büro im Kispi zu einem Rapport vor Ort oder zu einer Videokonferenz in einem anderen Spital zu», verdeutlicht Haager.

Gudrun Haager, Leiterin Organisationsentwicklung bei der Stiftung Ostschweizer Kinderspital Bild: Stephanie Engeler

Keine rein virtuelle Meetings in Medizin und Pflege

«Wir werden die Wahlmöglichkeit für physische oder virtuelle Sitzungen oder Rapporte beibehalten», erklärt Gudrun Haager. Und Ärzte könnten sich weiterhin virtuell zu ihren Patienten zu Besprechungen dazuschalten. Eines steht für sie aber fest: «In Medizin und Pflege wird es in absehbarer Zeit kaum rein virtuelle Meetings geben. Die persönliche Begegnung lässt sich hier nicht ersetzen.»

Dies gelte auch für die Diagnostik: Hier ist künstliche Intelligenz zwar in vielen medizinischen Bereichen eine grosse Unterstützung – die Interpretation der Ergebnisse und die nachfolgende Behandlung, etwa in der Onkologie oder Kardiologie, erfolgt nach wie vor zwingend durch den Facharzt oder die Fachärztin. Ärzte seien sehr zurückhaltend, was digitale Diagnostik anbelange, dies habe sich auch in ihrer Masterarbeit gezeigt: «Der persönliche Kontakt bleibt wichtig. Die Digitalisierung sollte helfen, mehr Zeit für die Patienten zu haben und nicht weniger», so das Credo der durch Gudrun Haager befragten Ärzte. Klar ist für sie aber auch, dass die Digitalisierung auch im «Kispi» stetig weitergehe, ja weitergehen müsse.

Von heute auf morgen flexibel

Für das IT-Unternehmen Abraxas mit Hauptsitz in St.Gallen änderte sich mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 innerhalb von wenigen Tagen fast alles: «Am Freitag, 13. März, kommunizierte der Bundesrat den Entscheid – und am darauffolgenden Mittwoch waren bereits 98 Prozent unserer Mitarbeiter im Homeoffice», erinnert sich Christoph Widmer, Leiter Human Resources bei Abraxas. Nur mehr der Empfang, der CEO, wenige Kollegen vom IT Support und er selbst seien ab und zu noch vor Ort gewesen. Homeoffice kannte Abraxas vor der Pandemie praktisch nicht. Theoretisch gab es zwar die Möglichkeit für einen halben bis einen ganzen Tag Homeoffice pro Woche, in der Realität wurde dies aber selten genutzt, so Widmer. Es galt das gängige Modell einer 41-Stunden-Woche mit Gleitzeit, wie dies viele Unternehmen kennen.

Christoph Widmer, Leiter Human Resources bei Abraxas Bild: zVg

Neues Homeoffice-Reglement

Die Homeoffice-Pflicht nutzte Abraxas, um ihr Arbeitsmodell komplett umzubauen. Seit Januar 2021 gibt es eine neue Homeoffice-Regelung, welche aufgrund der noch geltenden Homeoffice-Pflicht noch sistiert ist: Bei einer 100-Prozent- Stelle wird neu eine physische Anwesenheit von 40 Prozent über das ganze Jahr, mindestens aber ein Tag pro Woche verlangt. «Seit Mai 2020 schreibe ich auch Stellen auf jeder Stufe bis hin zum Kader als 80- bis 100-Prozent-Stellen aus und betone bei Gesprächen explizit die Möglichkeit von Homeoffice», erklärt Widmer. «Wir müssen als Arbeitgeber flexibel sein.»

Dies bewähre sich bereits – gerade 90-Prozent-Arbeitsmodelle seien sehr beliebt, stellt Widmer fest. Und auch die Bewerbungen hätten zugenommen: «Für einen Zürcher oder eine Zürcherin ist der Arbeitsort am Hauptsitz St.Gallen mit der Homeoffice-Regelung viel attraktiver als früher – und umgekehrt auch für einen St.Galler oder eine St.Gallerin am Standort Zürich.»

Hybrides Arbeitsmodell

Eine Erkenntnis aus den beiden Lockdowns ist für Christoph Widmer auch, dass Homeoffice nicht für alle Mitarbeiter und jede Situation die beste Lösung ist. «Es braucht eine gute Hybrid-Lösung», sagt er. Gewisse Meetings und Socialising seien nach wie vor wichtig vor Ort, aber es werde künftig sicher weniger physische Meetings geben. Widmer schätzt, dass die Gruppe von Mitarbeitern, die fix im Büro arbeiten, nach Ende der Homeoffice-Pflicht wohl nicht mehr die grösste sein wird. «Wir haben bereits jetzt viele ‹Hybride› unter den gut 800 Mitarbeitern an den beiden grössten Standorten in Zürich und St.Gallen», erklärt er.

Das flexible Homeoffice-Modell dürfte in Zukunft wohl noch mehr an Bedeutung gewinnen. Diese Ansicht teilt auch Petra Kugler: «Ich nehme in zahlreichen Gesprächen wahr, dass flexible Arbeit wohl zum neuen Standard wird.» Gerade für die jungen Generationen seien anpassungsfähige Arbeitsmodelle auch ein zentrales Kriterium für die Arbeitgeberwahl. «Wir gehen davon aus, dass die künftigen Gewinner diejenigen Unternehmen sind, die sich auf flexible Arbeitsmodelle einstellen und zu Veränderung bereit sind.» Text

Dieser Text von Tanja Millius ist aus der LEADER Ausgabe Mai 2021. Die LEADER-Herausgeberin MetroComm AG aus St.Gallen betreibt auch stgallen24.ch.

Tanja Millius
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