«Darf ich mal den Chef sprechen?», sagt ein Kunde zu der jungen Frau am Postschalter. «Der steht vor ihnen», kontert diese selbstbewusst. Verdutzt schaut der Mann sie an. Kein Wunder, denn die Frau hinter der dicken Glasscheibe ist gerade mal 19 Jahre alt. Yasmin Fehr leitet die Postfiliale in Bruggen an der Zürcherstrasse 257.«Zwar verlangen Kunden nur sehr, sehr selten nach den Vorgesetzten. Aber wenn dies mal der Fall ist, dann sorgt das für überraschende Gesichter», erzählt die angehende Detailhandelsfachfrau.
Wo Lernende das Sagen haben
Wie kommt es, dass eine 19-Jährige eine Postfiliale leitet? Dahinter steckt ein besonderes Projekt der Schweizerischen Post. Seit 2008 betreibt diese nämlich sogenannte «Lernendenfilialen», also Filialen, die ausschliesslich von Lernenden geführt werden. Vorgesetzte oder Ausbildner gibt es wie in klassischen Lehrlingsbetrieben keine. Zwei Beraterinnen stehen den Lernenden jedoch zur Seite.
Schweizweit gibt es aktuell sieben Lernendenfilialen. Über die Jahre sind immer mehr dazugekommen. In St.Gallen gibt es seit 2009 eine Lernendenfiliale. Zuerst in St.Fiden, im Grossackerzentrum, 2017 ist sie nach Bruggen umgezogen. In der West-Filiale Bruggen arbeiten aktuell sieben Lehrlinge und zwei Betreuerinnen. Die Betreuerinnen halten sich aber hauptsächlich im Hintergrund.
Meetings, Kundenbetreuung und Geldzählen
Chefin oder Chef sind immer jene, die gerade im dritten Lehrjahr sind. Jeder Chef hat – wie in normalen Betrieben auch – eine Stellvertretung. Die Lernenden sind dann jeweils für drei Monate Chef respektive Stellvertretung und haben dann für jeweils drei Monate das Sagen. «Wir bedienen die Kunden an den Schaltern, wickeln Postgeschäfte ab, führen Meetings mit den Mitlernenden, gehen Verkaufszielen nach und zählen am Schluss das Geld», sagt Yasmin Fehr.
Ihre Stellvertretung ist 18-jährige Ilirjeta Beqiraj. Der Hahn im Korb – der einzige Junge im Team – heisst Noble Huynh; er ist im zweiten Lehrjahr und heute dafür verantwortlich, dass am Schluss die Kasse stimmt.
«Deshalb ist er ein bisschen zappelig, denn wenn die Kasse nicht stimmt, dann müssen wir alles auf den Kopf stellen und alle Buchungen überprüfen. Am Schluss finden wir den Fehler aber immer», sagt Betreuerin Monika Leuch. Sie und Rute Gomes arbeiten seit Jahren mit den Jugendlichen zusammen: «Es ist eine lockere Arbeitsatmosphäre – und ich bleibe so auch fit im Kopf», lacht Leuch.