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Stadt St.Gallen
15.12.2020
16.12.2020 11:59 Uhr

«Diesem ‚büralen Fossil’ ist nicht mehr zu helfen»

Thomas Scheitlin und Ernst Ziegler am 5. Juni 2001 im Stadtarchiv St.Gallen
Thomas Scheitlin und Ernst Ziegler am 5. Juni 2001 im Stadtarchiv St.Gallen Bild: PD
Der ehemalige Stadtarchivar Ernst Ziegler erinnert sich an seine Zeit mit Bürgerratspräsident Thomas Scheitlin.

Im Juli 1971 wurde ich vom Bürgerrat St.Gallen «zum Stadtarchivar mit Amtsantritt am 1. November 1971» gewählt und war somit ein «Chefbeamter» der Ortsbürgergemeinde St.Gallen. Dieses schöne Amt versah ich bis zu meiner Pensionierung im Jahr 2003. – Von 1981 bis 2001 war ich zudem Präsident der Betriebskommission der Stiftung St.Galler Museen, die 1978 mit grossem Trarie ins Leben gerufen und 2012 mit ebensolchem Trara wieder beerdigt worden war.

Im «Pflichtenheft» des Stadtarchivars stand, «der Archivar soll ein Tagebuch führen», was ich als gehorsamer Untertan auch pflichtschuldigst getan habe, so dass nun 33 dicke Bände in meinem Privatarchiv auf die Entsorgung warten. Daraus sind die folgenden Reminiszenzen entnommen.

Ich hatte das Vergnügen unter vier Bürgerratspräsidenten zu dienen: Kurt Buchmann, Carl Scheitlin, Hansjörg Werder und Thomas Scheitlin, der von 2001 bis 2006 Bürgerratspräsident war. Ihm schrieb ich am 15. Dezember 1998 folgendes nach Rapperswil: «Fredi Siegenthaler, der Leiter der Stadtsäge, und ich würden gerne gelegentlich mit Ihnen zusammentreffen, um über den nächsten Präsidenten des Bürgerrates zu diskutieren. Falls Sie diesbezüglich Interesse haben, wären wir Ihnen um Terminvorschläge sehr dankbar.»

Es kam dann im Januar 1999 in meinem Büro in der «Vadiana» zu einer Besprechung zwischen Thomas Scheitlin, Fredi Siegenthaler und mir, und in der Bürgerversammlung der Ortsbürgergemeinde St.Gallen vom 23. Oktober 2000 wurde «der 45-jährige Thomas Scheitlin, Vizedirektor der UBS und Sohn des früheren Bürgerratspräsidenten Carl Scheitlin» einstimmig zum Präsidenten gewählt.

  • St.Galler Tagblatt, 27. Oktober 2000, «Gespräch mit dem designierten Präsidenten der Ortsbürgergemeinde St.Gallen» Bild: PD
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  • St.Galler Tagblatt, 1. November 2000 Bild: PD
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Der neugewählte Bürgerratspräsident, von dem mir bis heute die Stichworte «Eigenwirtschaftlichkeit, Marktwirtschaft, Marktauftritt, Zuschüsse, Gewinne» haften geblieben sind, nahm am 5. Dezember 2000 an der Verabschiedung von Bürgerratspräsident Dr. Hansjörg Werder im Restaurant «Unterer Brand» teil. Ich war beeindruckt und erfreut, als er mir zur vorgerückter Stunde das «Du» anbot.

Am Tag darauf besuchte er mich im Stadtarchiv in der «Vadiana», um sich über das Archiv, die Museen usw. informieren zu lassen. Der Anblick meiner «Underwood»-Schreibmaschine, die vermutlich kurz nach der Eröffnung der «Vadiana» 1907 ins Haus gekommen war und auf der ich jeweils mein «Archivtagebuch» zu Papier brachte, erstaunte Thomas sichtlich. Ich konnte ihn aber halbwegs beruhigen und auf meine moderne «HERMES 3000» hinweisen, die auf einem zweiten Schreibpult stand.

Seine Frage, ob ich den keinen Computer hätte, erstaunte dann mich. Ich antwortete – wenn ich mich recht erinnere –, so etwas sei im Büro des Archivmagazins für meine «Schreibkraft» vorhanden. Hier, in meinem stilvollen Zimmer würde jedoch so ein Apparat das ästhetische Bild stören. Sintemalen ich einen solchen auch nicht zu bedienen wüsste, könne man ja miteinander telephonieren oder einander schreiben bzw. miteinander reden. Es trafen da zwei Welten aufeinander, und Thomas wird gedacht haben, diesem «büralen Fossil» sei nicht mehr zu helfen. Womit er Recht haben sollte …

Noch heutbeitag vegetiere ich ohne Fernseher, Handy und seit neuestem sogar ohne Tageszeitung dahin, und meine Frau und ich leben getrennt von Mail und Internet, gottlob aber nicht von Tisch und Bett. Alles was ich heute noch zusammenbrünzle, schreibe ich mit meinem 1952 erhaltenen Füllfederhalter oder tippe ich nach «System Adler» in die «SWISSA piccola», die ich 1954 mit auf dem Bau verdienten Geld mir anschaffen konnte.

  • Im Stadtarchiv am 30. April 2003 Bild: PD
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  • Im Stadtarchiv am 30. April 2003 Bild: PD
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  • Im Stadtarchiv am 30. April 2003 Bild: PD
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Am 4. Februar 2001 sprach der neue Bürgerratspräsident in der Kirche St.Laurenzen an der Eröffnung der Ausstellung «450 Jahre Vadianische Bibliothek».

St.Galler Tagblatt, 5. Februar 2001 Bild: PD

An der Bürgerversammlung vom 23. April 2001 konnte Thomas Scheitlin bereits von einem «Glanzabschluss» der Jahresrechnung berichten.

St.Galler Nachrichten, 5. April 2001 Bild: PD

Am 5. Juni 2001 durfte ich dem Bürgerrat das Stadtarchiv vorstellen.

Führung im Stadtarchiv am 5. Juni 2001; Dr. Andreas Alther, Thomas Scheitlin, Ernst Ziegler, Thomas Eigenmann Bild: PD

Neu waren die sogenannten «Führungssitzungen» und «Klausurtagungen», mit denen die «Leidenden Mitarbeiter der Ortsbürgergemeinde St.Gallen» auf einmal beglückt wurden. Fröhlicher war dann das Mittagessen anlässlich meines dreissigjährigen Dienstjubiläums im Restaurant «Peter und Paul» am 25. Oktober 2001.

Ich konnte auf Ende 2001 als Präsident der Betriebskommission der Stiftung St.Galler Museen zurücktreten und das hohe Amt Thomas Scheitlin übergeben, was am 12. Dezember 2001 im Restaurant «Bäumli» in Anwesenheit von Stadtpräsident und Präsident des Stiftungsrates Dr. Heinz Christen gefeierte wurde. Dazu schrieb ich Thomas: «Ich habe schon mehrfach dargetan, wie zufrieden und glücklich ich war (und noch eine Zeit lang bin), im Dienste der Ortsbürgergemeinde arbeiten zu dürfen. Das möchte ich auch Dir gegenüber noch einmal deutlich gesagt haben. Ich bin auch sehr froh – und da bin ich nicht allein! –, dass wir Dich als Präsidenten der Ortsbürgergemeinde gewinnen konnten, und ich wünsche Dir in diesem Amt weiterhin viel Glück und Erfolg. Dasselbe gilt nun für das Präsidium der Betriebskommission der Stiftung St.Galler Museen. Ich hoffe, diese kulturelle Tätigkeit wird Dir Freude machen und der Ortsbürgergameine zu Nutzen und Frommen gereichen.»

  • Im «Bäumli» am 12. Dezember 2001 mit Heinz Christen Bild: PD
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  • Heinz Christen und Ernst Ziegler Bild: PD
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  • Thomas Scheitlin (rechts) und Ernst Ziegler Bild: PD
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  • St.Galler Tagblatt, 29. Januar 2002; Interview mit Thomas Scheitlin, «Museen müssen sich verkaufen» Bild: PD
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Das neue Jahr 2002 begann mit einem «Streit» wegen des neuen «Erscheinungsbildes», «Logo» oder «Firmenzeichen» genannt, der Ortsbürgergemeinde. Dazu schrieb ich dem Präsidenten: «Wir haben kürzlich in einer Sitzung der Projektgruppe Ausstellung ‚Textiles St.Gallen’ über ein solches deliberieret. Mit Recht sagte dann Urs Hochuli nach kurzem Palaver, es habe überhaupt keinen Sinn, weiter darüber zu diskutieren, da in Sachen ‚Logo’ sowieso jeder seine eigene – natürlich einzig richtige – Meinung habe, und man sollte die Art und Weise desselbigen dem Künstler oder Graphiker überlassen. Für mich heisst das, Ihr habt so entschieden und damit basta.»

  • Das alte «Erscheinungsbild» der Ortsbürgergemeinde Bild: PD
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  • Das alte «Erscheinungsbild» der Ortsbürgergemeinde Bild: PD
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  • Das neue «Logo» mit dem «Grünen Ring» Bild: PD
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Mit dem neuen «Erscheinungsbild» der Ortsbürgergemeinde begann auch ein neuer Wind zu wehen. Ende 2002 erhielt ich beispielsweise eine sogenannte «Zielüberprüfung», die der Herr Präsident mir dann in meinem Büro während eines «guten Gesprächs» am 18. Dezember zu erklären versuchte. Meines Wissens war es das erste und letzte Mal in meiner über dreissigjährigen Karriere als Stadtarchivar, dass ich dergestalt benotet wurde. Nicht genug damit, kamen dazu noch Kadertagungen, Mitarbeitergespräche, Fragebogen, Auftragserteilungen, Strategien und was des modernen Zeugs mehr war.

Kurz vor meiner Pensionierung konnte am 23. Mai 2003 im Gewölberaum des Stadthauses noch die Ausstellung «Stadtgeschichte im Stadthaus» eröffnet werden. Dann wurde ich am 27. Mai 2003 im Restaurant «Falkenburg» anlässlich eines «Abschiedsessens» an einem «wohlgelungenen und schönen Abend» offiziell entlassen. Die schöne, alte, schwere «Underwood» erhielt ich zu meiner Pensionierung als Geschenk.

Ich arbeitete jedoch noch eine Zeit lang stundenweise im Stadtarchiv weiter. Mitte Juni 2003 fand im Stadthaus die Buchvernissage von Manfred Tschaikners Werk «Die Zauberei- und Hexenprozesse der Stadt St.Gallen» statt, in welchem der «Vorarlberger Hexenmeister» meine langjährige Arbeit zu Ende führen konnte. Thomas Scheitlin schrieb dazu das Vorwort und begrüsste die zahlreich erschienenen Gäste.

Damit endete unser «amtlicher Kontakt» an den ich mich immer noch gerne erinnere, und wir verloren uns etwas «aus den Augen». Damals verabschiedetet ich mich sozusagen von der Geschichte unserer Stadt St.Gallen und beschäftigte mich fortan zuerst mit dem Basler Kultur- und Kunsthistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) und später bis heute mit dem Philosophen Arthur Schopenhauer (1788-1860).

In meinem letzten Jahresbericht 2003 schrieb ich: «Ich möchte diesen meinen letzten Jahresbericht nicht schliessen, ohne meinem Arbeitgeber, der Ortsbürgergemeinde St.Gallen und ihrem Bürgerrat, in deren Dienst ich 31 Jahre und sieben Monate tätig sein durfte, herzlich zu danken. Während dieser Zeit waren vier Präsidenten im Amt: Kurt Buchmann, Carl Scheitlin, Hansjörg Werder und Thomas Scheitlin. Mit allen vier war ‚gut Kirschen essen’ (oder Cognac trinken) und selten ist es zu grösseren Reibereien gekommen. Die verschieden agierenden Ratsschreiber und Chefbuchhalter waren durchwegs hilfsbereit, und mit den ‚Chefbeamten’ – wie sie ehedem sich nennen durften – verbanden und verbinden mich kollegiale und viele freundschaftliche Bande. Im Rückblick auf diese schönen drei Jahrzehnte darf ich feststellen, dass ich kaum auf einen grosszügigeren und unkomplizierteren Arbeitgeber hätte treffen können. Mit meinem Dank verbinde ich die Hoffnung, dass der Bürgerrat auch meinem Nachfolger jene Voraussetzungen weiterhin belässt, die das schöne Amt für eine fruchtbare Tätigkeit und Entfaltung braucht.»

Geburtstagsfeier von Ernst Ziegler im Restaurant «Wildegg» mit Hansjörg Werder und Thomas Scheitlin (1. Mai 2003) Bild: PD

Thomas Scheitlin (* 20. Juni 1953) ist seit 2007 St.Galler Stadtpräsident. Nach Tätigkeiten in der Privatwirtschaft war er von 2001 bis 2006 vollamtlicher Präsident der Ortsbürgergemeinde St.Gallen («Bürgerratspräsident»); 2006 wurde der FDP-ler als Nachfolger von Franz Hagmann (CVP) zum Stadtpräsidenten gewählt. Per Ende 2020 tritt Scheitlin zurück, seine Nachfolgerin wird Maria Pappa von der SP. Scheitlin ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Rotmonten.

Ernst Ziegler, ehemaliger St.Galler Stadtarchivar
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