Ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren führte im 19. Jahrhundert dazu, dass die Debatte um Alkohol an Schärfe gewann. So veränderte sich beispielsweise das Trinkverhalten. Im Zuge der Industrialisierung diente der Alkohol verstärkt als rituelles Symbol oder als Mittel, um der Lebensrealität zu entfliehen. Hinzu kam, dass günstiger Alkohol einfacher verfügbar war. Schnaps diente dabei auch als Nahrungsmittelersatz, wenn auch der Hunger damit lediglich unterdrückt statt gestillt wurde.
Zum Vergleich: Der Konsum reinen Alkohols pro Kopf betrug in der Schweiz im Jahr 2020 7,6 Liter, 1880 waren es 14,8 Liter. Die sich formierenden Gegenbewegungen erachteten die geforderte Temperenz oder später die Abstinenz jedoch nicht nur als Mittel, um Alkoholismus und das daraus potenziell resultierende Elend zu bekämpfen oder vorzubeugen. Sie versuchten auch, die Gesellschaft in ihrem Sinne zu reformieren und zu disziplinieren.
Die Rahmenbedingungen von Debatten um Alkohol unterlagen seit dem 19. Jahrhundert einem stetigen Wandel, sodass man die alkoholkritische Bewegung von früher und heute nicht gleichsetzen kann.
Widerstand gegen den Alkoholkonsum
Um 1880 entstand in der Schweiz eine Vielzahl verschiedener Organisationen, die sich dem Kampf gegen den Alkohol verschrieben hatten. Die Alkohol-Abstinenzbewegung gehörte um 1900 zu den wichtigsten sozialen Bewegungen der Schweiz. Sie umfasste auf ihrem Höhepunkt rund 60 000 Mitglieder und war damit die drittgrösste sozialpolitisch engagierte Bewegung.
Die entstandene Abstinenzbewegung lässt sich in vier Kategorien unterteilen: die protestantische, die sozialhygienische, die katholische und die sozialistische Richtung.
Um die Jahrhundertwende wurden in St.Gallen beispielsweise folgende Vereine beziehungsweise Ortssektionen gegründet: Verein vom Blauen Kreuz, Humanitas San Gallensis (Studentenverbindung), Katholische Abstinentenliga, Guttemplerloge Freiheit, Alkoholgegnerbund und Verein Abstinenter Eisenbahner.
Der Alkoholgegnerbund Sektion St.Gallen und seine Tätigkeiten
Im Stadtarchiv St.Gallen befindet sich das Archiv des Alkoholgegnerbunds, Sektion St.Gallen (kurz: AGB SG). Leider ist der Bestand unvollständig. Die Archivalien vom Beginn des Vereins bis in die 1920er- und 1930er-Jahre gingen damals verloren. Somit fehlen potenziell spannende Protokolleinträge oder Korrespondenzen, beispielsweise zur angenommenen eidgenössischen Volksinitiative für ein Absinthverbot im Jahr 1908 oder zur abgelehnten Volksinitiative für ein Branntweinverbot im Jahr 1929.
Dafür ist die Zeit danach bis zum Ende des Vereins in den 1990er-Jahren gut dokumentiert. Enthalten sind Korrespondenzen, Vorstandsprotokolle, Jahresberichte, Mitgliederverzeichnisse usw.