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Leserbrief
Stadt St.Gallen
11.10.2025
11.10.2025 11:28 Uhr

«Stadt im Sonnenschein»

Eveline Ketterer
Eveline Ketterer Bild: Streetlife
Eveline Ketterer von Stadtstrasse/Aufrecht St.Gallen fasst in ihrem Leserbrief ihre Gedanken zum E-Bike-City-Modell der ETH zusammen, das auch für St.Gallen diskutiert wird.

Ein neues Postulat aus dem Stadtparlament macht sich für ein Konzept einer Velostadt stark, wozu das «E-Bike-City» Modell der ETH Zürich als Vorbild dient.

Darf ich vorstellen: das E-Bike! Eine innovative Erfindung, mit der man in der langsamen Variante eine Tretunterstützung bis 25km/h und in der schnellen Variante bis 45km/h erhält.

Die schnelle Variante erübrigt sich eigentlich in einer Stadt, in der man mittlerweile froh sein muss, wenn man noch 30 fahren darf. Aber auch mit der langsamen Variante kommt man durch fleissiges Treten selbst bei geraden Strassenabschnitten auf 27-32km/h.

Aber gut: die «E-Bike-City» soll ja eine wenigstens 50% Velostadt werden, da gilt dann vielleicht das Tempolimit gar nicht mehr und wir dürfen alle frei herumflitzen. Schauen wir uns einfach mal das E-Bike City Projekt der ETH an.

Da gibt es Videos und Visualisierungen, wie die 26 «Forschenden» der ETH Zürich und EPF Lausanne sich so eine Velostadt vorstellen anhand einiger Strassenabschnitte in Zürich.

Wenig erstaunlich sitzen in den Visualisierungen ganz viele Menschen auf Bänkli und flanieren gemütlich. Diese fröhlichen Bilder kennt man bereits vom Projekt «Grünes Gallustal».

Etwas mehr erstaunt bin ich über zwei glücklichlächelnde Männer auf Velo und E-Trotti, die mitten auf der Strasse fahren – während direkt hinter ihnen ein Bus fährt.

Mir persönlich wärs schon mal gar nicht wohl mit so einem Bus oder einem sonstigen Fahrzeug, das direkt hinter mir fährt. Aber egal, sowas wie Sicherheitsempfinden ist ja sehr subjektiv und man kann sich an alles gewöhnen.

Auffallend viele junge Menschen sind in diesen Visualisierungen. Eigentlich sind in den Visualisierungen fast nur junge Menschen. Sie bewegen sich auf schneidigen E-Bikes und E-Trottinetts fort, sitzen lächelnd nebeneinander(ohne Handy, Respekt!), schieben entspannt herzige Kinderwagen und unterhalten sich miteinander auf dem Trottoir.

Die Alten hat man wohl in den Dörfern parkiert? Oder was hat man mit ihnen vor?

Die Sonne scheint. Das macht’s möglich, dass sich auch der Herr im Anzug auf den Drahtesel schwingt. Es wundert mich wenig, dass eine Visualisierung fehlt, welche die Situation bei Regen, Kälte, Wind, Nebel oder Graupelschauer zeigt. Oder Schnee und Glatteis.

Im Erklärvideo erfährt man dann, dass der «Mikromobilität» (das sind diese ganzen E’s, auf denen die schneidigen jungen Menschen fahren) bei Sonnenschein «mehr Platz» eingeräumt werde, während an Regentagen der öffentlichen Verkehr «Vorrang hat».

Ja, das kommt hin! Ich bin an Regentagen oft die einzige Velofahrerin weit und breit, da sich die meisten zu fein sind, ein «Rägämänteli» überzuwerfen, in Regenschutzhosen zu steigen und nasse Brillen zu polieren.Somit werden sich die Schönwettervelofahrer bei Regen wohl alle in den ÖV quetschen.

Auf diese künftige Einsatzplanung des ÖV-Personals und den flexiblen Fahrplan mit dem «dynamischen Strassenzuweisungssystem» bin ich echt gespannt.

Trotz hunderten von Jahren an Erfahrung mit Wettervorhersagen sind wir ja immer noch nicht in der Lage, mehr als drei Tage im Voraus eine einigermassen zutreffende Prognose zu treffen.

Eine riesige Käseglocke über der Stadt mit künstlich erzeugtem Klima könnte das Ganze vielleicht kontrollierbar machen. Am besten, wenn es dann auch nur nachts regnet, damit man tagsüber im Sonnenschein lächeln kann.

Einkaufen tut man in der E-Bike City offenbar auch nicht. Ganz vielen Velos fehlt schlicht der Gepäckträger. Auch die Taschen der Damen und Herren, die unterwegs sind, sehen eher «schnusig» aus oder baumeln leicht in Händen und aufRücken, was auf mangelnde Füllung hinweist. 

Ja, wir konsumieren nichts mehr, sondern «plämperlen» auf Trottoirs und Bänkli herum. Eine Frau auf Velo hat ihr schmalesTäschli grad so knapp aussen an der Schulter hängen, dass ich schon fast physisch spüre, wie es ihr demnächst in den Ellbogen runterrutscht. In einem Lastenvelo transportiert eine Mami ihre offenbar etwa 12-jährige Tochter – kann die nicht selbst Velo fahren?

Allzu viele Velos hat es dann aber doch nicht: die Veloparkplätze sind fast leer. Möglicherweise wohnen dann einfach auch nicht mehr so viele Menschen in Zürich und es wollen auch nicht mehr so viele in die Stadt fahren.

Gut, letzteres Ziel erscheint aktuell zumindest erreichbar. In der 3D Animation fährt die Frau mit dem Velo, das sie per Handy freischalten kann, um es aus irgendeiner Box am Bahnhof Wallisellen zu nehmen, jedenfalls völlig allein auf der Strasse.Aber das ist ja auch Wallisellen, vielleicht geht das da.

Zusammengefasst: die Visualisierungen zeigen junge Menschen, die sehr viel Freizeit haben und sich lächelnd durch den Sonnenschein bewegen. Zudem ist Zürich ziemlich stark entvölkert. Behinderte hat man anscheinend abgeschafft.

Vielleicht half dabei die, Zitat aus dem Erklärvideo:«Ermutigung zu regelmässiger körperlicher Aktivität». Ich weiss nicht, ob ich es realitätsfremd oder einfach nur gruselig finden soll. Was geht einem eigentlich durch den Kopf, wenn man sowas gestaltet? Ganz selbstbewusst erklärt uns der Sprecher, «E-Bike-City» sei ein «Werkzeugkasten für jede Stadt».

Vielleicht sollten die «Forschenden» sich mal den demografischen Wandel anschauen, der auf uns zukommt.Wie viel Nachwuchs wir aktuell haben – und wie gross der Anteil an alten Menschen in den nächsten Jahrzehnten sein wird.

Diese alten Menschen müssen in Zukunft von jungen Menschen irgendwie versorgt werden. Wenn es so weitergeht, wird eine Minderheit der Gesellschaft bald für eine Mehrheit der Gesellschaft die Infrastruktur stellen müssen. All die Lebensnotwendigkeiten: Nahrung, Kleidung, Medizin...

Der Anteil an Menschen im erwerbstätigen Alter sinkt in praktisch jedem Berechnungsszenario mit Karacho – trotz Migration. Ob das dann für uns alle so entspannt und agil wie in diesen «Bildli» ablaufen wird, wage ich zu bezweifeln.

Eveline Ketterer
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