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Leserbrief
Stadt St.Gallen
21.07.2025
21.07.2025 17:03 Uhr

«Ein liberales Plädoyer gegen automatische Rechtsübernahme»

Julian Stöckli aus St.Gallen
Julian Stöckli aus St.Gallen Bild: Collage: stgallen24
Julian Stöckli, Vorstandsmitglied der Jungfreisinnigen Kanton St.Gallen, warnt vor der institutionellen Einbindung der Schweiz in die EU-Rechtssetzung. Er fordert ein obligatorisches Referendum und kritisiert das vorgesehene bilaterale Paket als demokratiepolitisch problematisch.

«Als (Jung)freisinniger ist für mich das bilaterale Paket mit der Europäischen Union (EU) ein unangenehmes Thema, da die FDP in der Frage gespalten ist. Die SVP kann ihr traditionelles Kernanliegen zum eidgenössischen Endkampf stilisieren. Die europhilen Stimmen um Mitte, GLP und Grüne können mit den neuen Verträgen ihren gewohnten Kampf zwischen «progressiver Vernunft» und «bäuerlichen Hinterwäldlern» führen.

Die FDP, Alliierte einer Wirtschaft, die viel von der Idee des EU-Binnenmarkts hält, gleichzeitig aber keine Freundin der sozialdemokratisch regulierten EU-Wirtschaft ist, zieht den Kürzeren.

Das neue Paket gliedert sich in die Teile «Stabilisierung» (Personenfreizügigkeit, Konformitätsbewertungen industrieller Produkte, Landverkehr, Luftverkehr, Agrarwirtschaft, nebst zwei Programmen und der Kohäsion) sowie «Weiterentwicklung» in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit. Es untersteht, sofern das Parlament dem Bundesrat folgt, dem fakultativen Staatsvertragsreferendum mit einfachem Volksmehr.

Aufmerksam machen will ich in diesem Beitrag auf die Referendumsfrage sowie das Institutionelle – zentrale Gebiete für ein direkt-demokratisches und selbstbewusstes Land.

Die Referendumsfrage

Klar ist, dass mindestens das fakultative Staatsvertragsreferendum zur Anwendung gelangt, da das Paket unstreitig wichtige rechtsetzende Bestimmungen enthält und den Erlass von Bundesgesetzen notwendig macht (vgl. Art. 141 Abs. 1 lit. d Ziff. 3 BV).

Ein obligatorisches Staatsvertragsreferendum mit doppeltem Mehr von Volk und Kantonen ist durch die Bundesverfassung vorgeschrieben, wenn die Schweiz einer supranationalen Gemeinschaft beitritt (Art. 140 Abs. 1 lit. b Variante 2 BV).

Der Bundesrat führt im Erläuternden Bericht aus, dass ein solcher Beitritt vorliegt, wenn die Schweiz supranationalen Organen unterstellt wird, die ohne Weisungen der Vertragspartner (Schweiz und EU) unter Mehrheitsentscheid abstimmen, sofern deren Entscheide unmittelbar und auch für Private sowie in einem materiell relativ umfassenden Gebiet gelten.

Der Bundesrat sagt dann, dass die Schweiz keinen supranationalen Organen unterstellt werde, die unmittelbar verbindlich und ohne Weisungen der Schweiz Recht setzen, da die dynamische Rechtsübernahme keine automatische sei, sondern die Schweiz eigenständig entscheide, ob eine Rechtsübernahme vorgenommen werde oder nicht.

Das ist formalistisch und überzeugt natürlich nicht: Denn die Rechtsübernahme in weiten Gesetzgebungsfeldern wie Personenverkehr, Lebensmittel und Strom geschieht zwar formal schon eigenständig, die Schweiz verpflichtet sich aber dazu. Der Gemischte Ausschuss ist nicht frei. Darum sollte man bei dieser Frage direkt zu den mit Mehrheit statt Konsens und frei von Schweizer Weisungen abstimmenden EU-Parlament, Rat der EU oder EU-Kommission durchgreifen.

Dann erscheint klar: Diese Organe setzen im (weiten) Bereich der Abkommen für die Schweiz verbindliches Recht, zu dessen Übernahme sie verpflichtet ist. Der Tatbestand der «supranationalen Gemeinschaft» ist klar erfüllt. Es ist deswegen nicht notwendig, auf ein Staatsvertragsreferendum «sui generis» zurückzugreifen. Das Parlament sollte das Paket dem ordentlichen obligatorischen Staatsvertragsreferendum im Sinne von Art. 140 Abs. 1 lit. b Variante 2 BV unterstellen.

Das Institutionelle

Nun einige Bemerkungen zum Institutionellen: Ohne in «Unterwerfungsvertrag»-Rhetorik abzugleiten, müssen wir uns schon bewusst sein: Wir outsourcen durch das Paket praktisch die ganze Lebensmittel- und Stromgesetzgebung – zusammen 73 Rechtsakte (nur Status quo), was 73 Bundesgesetzen entspricht.

Auch andere Bereiche sind von der dynamischen Rechtsübernahme betroffen (insbesondere die Bereiche Industrieprodukte/MRA und Personenfreizügigkeit). Diese dynamische Rechtsübernahme ist jeweils auf die «Geltungsbereiche» der Abkommen beschränkt (siehe z. B. Art. 5 Abs. 1 des Institutionellen Protokolls zum Freizügigkeitsabkommen).

Was das heisst, ist aber völlig unklar. Es gibt jedenfalls keine abschliessende Positivliste von Rechtsakten, sondern alle Rechtsakte der EU, die etwas mit den Abkommen «zu tun haben», sind zu übernehmen. Die EU ist – ausser dort, wo wir Ausnahmen vereinbart haben – vollends frei, was sie in die zu übernehmenden Gesetze schreibt. Böse Überraschungen sind garantiert.

Durch den Blankoscheck, den wir gewähren, kann sie sogar Recht setzen, das bei uns Verfassungsrang hätte. Die publizierte Liste der zu übernehmenden Gesetzgebungsakte ist nur der Status quo. Neue Rechtsakte, die die EU in den nächsten Jahren verabschiedet, sind nicht inkludiert, werden aber zu übernehmen sein, sofern sie den Geltungsbereich eines Abkommens betreffen.

Zudem ist fraglich, ob die Begriffe der «Geltungsbereiche» der Abkommen sogenannte EU-Rechtsbegriffe sind. Verschiedentlich werden diese Geltungsbereiche nämlich in EU-Terminologie umschrieben (z. B. Art. 2 ff. Landverkehrsabkommen Schweiz–EU).

Das ist gefährlich: Denn so entscheidet über den Umfang der Rechtsübernahme im Streitfall nicht das Schiedsgericht, sondern der Europäische Gerichtshof (EuGH) (siehe z. B. Art. 10 Abs. 3 des Institutionellen Protokolls zum Freizügigkeitsabkommen). Ein ausländisches Gericht entscheidet also vielleicht, ob die Schweiz ein Gesetz übernehmen muss, das die Parlamentarier und Minister der europäischen Staaten ohne Schweizer Beteiligung beschlossen haben.

Das ist – bei aller Liebe für das Friedens- und Freiheitsprojekt EU – grotesk. Dabei ist die Rechtsübernahme nicht auf technische Fragen beschränkt, sondern geschieht in den Bereichen Lebensmittel, Strom, Personenfreizügigkeit, Verkehr und Industrieprodukte – zentrale Gebiete einer unabhängigen und industrialisierten G20-Volkswirtschaft.

Als Liberaler bin ich für offene Märkte und die freie Entfaltung des Menschen im dezentralen und kreativen Güteraustausch überall auf der Welt. Handel führt zu mehr Wohlstand weltweit und einem reichen und attraktiven Angebot für die Konsumenten in der Schweiz.

Doch als Demokrat, der die Herrschaft des Volkes über sich selbst als einzig richtiges System betrachtet, finde ich die umfassende Fremdgesetzgebung, die das bilaterale Paket einführt, bedenklich.»

Julian Stöckli
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