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Leserbrief
Stadt St.Gallen
24.02.2025
25.02.2025 07:22 Uhr

«Die Rathausfassade als Symbol von Klientelpolitik»

Eveline Ketterer ist mit dem Tempo-30-Regime der Stadt nicht einverstanden
Eveline Ketterer ist mit dem Tempo-30-Regime der Stadt nicht einverstanden Bild: Collage: stgallen24
In St.Gallen sollen Mitwirkung und Partizipation grossgeschrieben werden – doch in der Praxis scheinen nur bestimmte Anliegen Gehör zu finden. Während sich der Stadtrat für die Verkehrsberuhigung einzelner Quartiere einsetzt, werden andere Bürgeranliegen konsequent ignoriert. Eveline Ketterer kritisiert in ihrem Leserbrief die einseitige Verkehrspolitik und die wachsende Klientelpolitik im Stadtparlament.

«Unser einzigartiges Erfolgsrezept der direkten Demokratie in der Schweiz beruht darauf, dass wir in den kleinsten Einheiten, also in den Gemeinden, die grössten und umfassendsten politischen Rechte haben.

Dieses sogenannte «Subsidiaritätsprinzip», ein Prinzip der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung des Individuums, sichert uns den sozialen Frieden: Es bewahrt uns davor, dass unbeteiligte Aussenstehende über die Köpfe anderer hinweg etwas zu deren Ungunsten entscheiden können.

So weit, so gut.

In der Stadt St.Gallen hat man mit dem Bevölkerungsvorstoss ein Werkzeug geschaffen, mit dem sich auf Gemeindeebene einzelne Bürger Gehör verschaffen können, auch dann, wenn sie selbst nicht stimmberechtigt sind. Ebenfalls gehören Petitionen und Mitwirkungen zur «Partizipation», welche die Stadt St.Gallen den Einwohnern anbietet.

Ich finde das grossartig. Was ich weniger grossartig finde, ist die Tatsache, dass Stadtrat und Parlament Kritik einer Bevölkerungsgruppe, die nicht ihrem politischen Schema entspricht, systematisch aussen vor lassen.

Das sehen wir bei den Mitwirkungsberichten – ein Trauerspiel sondergleichen.

Man muss sich nur einmal die Mitwirkungsberichte zur Neugestaltung der Bahnhofstrasse vom Oberen Graben bis zur Schützengasse, zum neuen Marktplatz oder auch den «Erfolg» der Petitionen zum Erhalt der Bushaltestelle Schibenertor oder zur alternativen Pavillonlösung des Vereins Marktfrisch ansehen.

Wenn ich dann in einem Statement von Grünen-Präsident Michael Breu lese, dem Wunsch der direkt betroffenen Bevölkerung in St.Georgen sei zu entsprechen, weil sich diese mit Petition und Bevölkerungsvorstoss für eine Verkehrsberuhigung ihres Quartiers ausgesprochen habe, muss ich fragen: Wo bleibt denn das Einstehen für die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger, die sich wieder oberirdische Parkflächen, moderate Parkiergebühren und normale Tempozonen wünschen?

Wo bleibt die Erkenntnis, dass Menschen mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit ein Auto haben müssen? Wo bleibt die Rücksicht auf Menschen, die Schichtarbeit verrichten und unmöglich mit dem ÖV zur Arbeit kommen können? Stadtbewohner in Aussenquartieren?

Leute, die zur Arbeit müssen, aber irgendwo «im Gaggo» draussen wohnen? Gestresste Familienväter und -mütter, die zwischen Arbeit, Haushalt und Kindern hin- und herwetzend nicht alles mit dem Lastenvelo erledigen können? 

Und wo überhaupt bleibt das Freiheitsverständnis, den Bürgern die Wahl ihres Verkehrsmittels selbst zu überlassen?

Das Freiheitsverständnis, wie es Michael Breu vertritt – wonach die Freiheit der Autofahrer eingeschränkt werden darf zugunsten der Anwohner –, endet bei mancherlei Politikern genau dort, wo andere Bevölkerungsteile ihre Bewegungs- und Wirtschaftsfreiheit einfordern.

Die Stadtparlamentarier wohnen hauptsächlich in den gutsituierten Quartieren und sammeln sich dort wie ein Knäuel. Im Riethüsli und in St.Georgen lebt ein Grossteil der Wählerschaft von SP und Grünen – und für diese wird kräftig politisiert. Vornehmlich von Pädagogen, Juristen, Medizinern, Architekten und Staatsangestellten, die die städtische Oberschicht darstellen.

«Politik für alle» ist das schon längst nicht mehr.

Das Grundproblem scheint mir zu sein, dass Parteien generell nur noch auf die Bedürfnisse ihrer eigenen Wählerschaft fokussieren, anstatt das Gesamtbild im Auge zu behalten – sie betreiben reine Klientelpolitik.

In einem Parlament mag es noch angehen, dass Parteien eine Stimme für ihre Wähler sind und für deren Bedürfnisse einstehen. Dann muss ein Parlament aber auch ausgewogen genug sein, um die gesamte Bevölkerung mit all ihren Schichten abzubilden.

In einer Regierungsverantwortung, sei es im Stadtrat, im Regierungsrat, im Ständerat oder im Bundesrat, muss man jedoch davon komplett wegkommen und dafür sorgen, dass Entscheidungen nicht nur für einen Teil der Bevölkerung stimmig sind, während andere ausgeklammert und übergangen werden.

Das Rathaus, mit seiner nach aussen verspiegelten Fassade, zwölfstöckig über uns herausragend, strahlt genau das aus: Was von aussen hereindrängen will, prallt ungesehen ab. Es wird hauptsächlich von oben nach unten und von innen nach aussen regiert.»

Eveline Ketterer, Aufrecht St.Gallen
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