Mit seinem 1874 in der Kirche San Marco in Mailand uraufgeführten Requiem schuf Giuseppe Verdi eine revolutionäre Form der Totenmesse. Nachdem er wenige Jahre zuvor mit der Komposition seiner Oper Aida grosse Erfolge gefeiert hatte, komponierte er die Totenmesse ganz in der theatralen und dramatischen Haltung seiner Opern.
Gerade dieser theatrale Aspekt hat immer wieder Regisseure zu szenischen Fassungen inspiriert. Der polnische Regisseur und Librettist Krystian Lada, der vor zwei Jahren in St.Gallen mit seiner Interpretation von Daniel Catáns Florencia en el Amazonas begeisterte, hat die Messa da Requiem um gesprochene Texte ergänzt und erzählt so eine Geschichte über Tod, Schuld und Erlösung.
Für diese Koproduktion des Theaters St.Gallen mit dem Theater Winterthur kommen Mitglieder aller Sparten zusammen: Musiktheater, Schauspiel, Tanz und Orchester.
Vier Geschichten
Vom slawischen Ritual Dziady ausgehend, werden die Zuschauer eingeladen, einer Totenfeier beizuwohnen: Dziady oder die «Nacht der Vorfahren» ist ein Ritual, bei dem die Lebenden die Toten zu sich einladen, sie bewirten und ihnen ihre Hilfe anbieten, im Leben nicht gelöste Probleme oder Sorgen zu bewältigen, damit sie in Frieden ruhen können.
Krystian Lada und sein Team verarbeiten in diesem Rahmen vier historische Vorfälle. Sie blicken auf die Schicksale des Herzchirurgen Christiaan Barnard, des Poeten Thom Gunn, der Mutter Adriana Reyez und der Autorin Virginia Woolf. Dabei dreht sich alles um die Themen Schuld, Reue und Erlösung.
Ein Abschluss mit der Zeit
In einer Art Fegefeuer stehen die Figuren sich selbst gegenüber, um sich schliesslich selbst zu richten. Denn dieses Requiem verzichtet, Verdis kritischer Haltung gegenüber der Institution Kirche entsprechend, auf die Allmacht Gottes. Der Moment, sich selbst zu richten, wird dabei zum Befreiungsschlag und symbolisiert die Hoffnung auf einen Neubeginn.
Wie in Verdis Opern stehen auch in seiner einzigen Totenmesse Emotionen im Fokus: Die bewegende Musik beschwört Gefühle von Angst, Wut, Trauer sowie den Wunsch nach Erlösung und Befreiung, aber auch die Hoffnung auf einen Neubeginn.
Mit den grossen Themen Vergänglichkeit und Neubeginn steht das Requiem auch symbolisch für das Theater St.Gallen im Jahr 2023: Die spartenübergreifende Produktion markiert den Abschluss der Zeit im Theaterprovisorium UM!BAU. Nach der Sommerpause folgt die Rückkehr in das sanierte und erweiterte Theatergebäude.