Der Historische Verein des Kantons St.Gallen gibt mit dem «Neujahrsblatt» seit 1859 jährlich ein Buch heraus, das sich der Geschichte der Region widmet. Im vorliegenden Band steht das Gegensatzpaar «Erinnern und Vergessen» im Zentrum. Es prägt nicht nur die Geschichtsforschung, sondern jeden einzelnen Menschen – in der digitalen Gegenwart mehr denn je.
Die Geschichtsforschung muss zum einen angesichts der unzähligen thematischen Möglichkeiten stets Akzente setzen. Zum anderen ist sie darauf angewiesen, dass sich ihre Themen mit ausreichend Quellenmaterial untersuchen lassen.
Verluste der Vergangenheit
Der Aspekt der Überlieferung war es auch, der zur Themenwahl für dieses Neujahrsblatt führte. Die Verwaltung und mit ihr die Aktenproduktion wächst seit Längerem an.
Was aber bedeutet es für die Geschichtsschreibung, wenn in Archiven aufgrund der Masse ausschliesslich fünf bis zehn Prozent der produzierten Unterlagen dauerhaft überliefert werden? Und wie prägt die Digitalisierung die Überlieferungsbildung? Gibt es Themen oder auch Dinge, die in Vergessenheit geraten, weil sie den Sprung ins digitale Zeitalter nicht schaffen?
«Erinnern und Vergessen» prägen die Geschichtsschreibung jedoch nicht erst seit den vergangenen Jahrzehnten mit ihrer massenhaften Aktenproduktion, sondern seit Jahrtausenden. Erinnerung wird aktiv gestaltet und bisweilen ebenso aktiv verhindert.
Seit der Antike ist die Praxis der «damnatio memoriae» bekannt, die Tilgung von Namen und Bildern missliebiger oder missliebig gewordener Personen. Wurden in der Antike Namen von Tafeln ausgemeisselt oder später im Mittelalter mit Messern von Urkunden gekratzt, liessen Herrschaftsträger in der Moderne beispielsweise Fotografien oder Gemälde verändern, um die Erinnerung an Menschen auszulöschen.
Aspekte des Vergessens
Einige der erwähnten sowie weitere Aspekte werden im Neujahrsblatt 2023 behandelt. So widmet sich beispielsweise der Aufsatz von Stefan Gemperli den Herausforderungen moderner Archive, während Nicole Stadelmann und Stefan Sonderegger die Hintergründe von Verlusten von Urkunden im Hoch- und Spätmittelalter veranschaulichen.
Die Rate des Nichtüberlieferten beträgt bis zu 95 Prozent. Es werden jedoch nicht nur Schriftstücke gesammelt und damit erhalten beziehungsweise sie gehen verloren und geraten in Vergessenheit. Max Lemmenmeier beschreibt die Glanzzeit und das allmähliche Verschwinden eines alten Handwerks, der Kürschnerei in St.Gallen.
Auch das Erinnern an Verstorbene ist Veränderungen unterworfen. Der Kremation wird heute gegenüber der Erdbestattung der Vorzug gegeben. Daniel Klingenberg zeigt, wie Friedhöfe – traditionelle Orte des Gedenkens – neue Formen der Nutzung suchen und finden.
Das Vergessen gehört ebenso zum Menschen wie das Erinnern, ist jedoch, besonders wenn es sich um das Vergessen im Alter handelt, für viele ein Tabu. Diana Staudacher und Heidi Zeller geben einen Überblick über die noch junge Geschichte der Demenz. Sie machen deutlich, dass sich die Gesellschaft dieser sozialen Aufgabe stellen muss.
Weitere Beiträge zur Sammeltätigkeit in Archiven und Bibliotheken des Kantons St. Gallen und zur Nutzung von Schriftgut in Vergangenheit und Gegenwart runden den Thementeil des Neujahrsblatts 2023 ab.