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Stadt St.Gallen
05.02.2022
05.02.2022 09:12 Uhr

Mundart-Kolumne «Hopp Sanggale!»

Susan Osterwalder-Brändle
Susan Osterwalder-Brändle Bild: pd
Susan Osterwalder-Brändle erforschte während Jahren den St.Galler Dialekt. Mit «Hopp Sanggale!» entstand ein Werk mit rund 3000 Mundartbegriffen und Redensarten, die zum Teil schon in Vergessenheit geraten sind. Auf stgallen24 leben sie wieder auf. Heute: «Sidian».

Sidian ist männlich und ist eine scheltende aber auch anerkennende Bezeichnung, Schimpfwort

«Du bisch etz doch en Sidian!» Ein Schimpfwort, welches kaum mehr in einer Auseinandersetzung auftaucht. Umso erstaunter war ich kürzlich, das Wort im Gespräch von einer jüngeren Person zu hören. Meine Mutter, die niemals fluchte (im Gegensatz zu mir) und derbe Schimpfwörter stets vermied, verwendete jedoch den «Sidian» viel und gern. Mir gefiel das Wort schon als Kind. Sowohl das geschriebene Wortbild, als auch die Aussprache.

Sogar der böseste Bösewicht klingt – mit «Sidian» bezeichnet – beinahe distinguiert! Ist der «Sidian doch fast ein bisschen frankophon angehaucht. Und das kommt nicht von ungefähr.
Denn der «Sidian» geniesst verschiedene Bedeutungsnuancen: So weiss der «Schnabelweid-Briefkasten» von Radio SRF: «Er wird für verleumderische oder boshafte Menschen gebraucht, für Säufer, Strolche, hinterlistige und durchtriebene Kerle. Er kann aber auch Bewunderung ausdrücken.»

So steht im Schweizerischen Idiotikon als Beispiel folgender Satz von 1904: «Dä cheibe Sidian! Dä weiss d Sach azstelle.» Ein «Sidian» ist also mit allen Wassern gewaschen – trickreich, unerschrocken, vielleicht etwas zwielichtig aber durchaus gewitzt. Josef Röösli-Balmer bezeichnet in seinem Entlebucher Mundartwörterbuch einen «Sidian» als mutigen Draufgänger und mit leichter Ironie, als geschickten Halunken.
Das Wort sei – laut Idiotikon – vom Französischen «citoyen» (Bürger) abgeleitet und wahrscheinlich im Nachgang des so genannten Franzoseneinfalls entstanden. Es handelt sich um einen politisch stark aufgeladenen Begriff.

Bei der Französischen Revolution 1789 spielte er eine wichtige Rolle, nämlich als Abgrenzung zum wohlhabenden «Bourgeois». Nach dem Einfall im Jahr 1798 versuchten die Franzosen, auch in der neuen Helvetischen Republik ein gewisses Vokabular durchzusetzen. Zum Beispiel wollten sie, dass sich die Schweizer nicht mehr mit «Herr», sondern mit «Bürger» oder – zumindest schriftlich – mit „citoyen“ ansprachen. Es ist zwar nicht belegt, aber gut möglich, dass dieses Sprachdiktat in der abschätzigen Bezeichnung «Sidian» mündete.

Doch der «Sidian» existiert nicht nur in der Schweiz, sondern findet sich auch in verschiedensten deutschen Wörterbüchern. So weiss beispielsweise Dr. Rudolf Post, Leiter des Badischen Wörterbuchs, von der Uni Freiburg: Im deutschen Südwesten, also in der Pfalz, Südhessen, Baden, Schwaben und auch im Elsass, kann man hin und wieder das Wort Sidian hören. Meist werden auch hier durchtriebene, raffinierte aber auch freche, nichtsnutzige Menschen tituliert, wobei eine teils scheltende aber nicht selten auch eine durchaus anerkennende Beurteilung mitschwingen kann. Dazu existieren Zusammensetzungen wie Herrgottsidian, Herrschaftssidian oder Sidiansteufel.

Bei manchen Sprechkennern wird gar eine Beziehung zu Satan hergestellt. «Der früheste Beleg, den ich bisher zu diesem Begriff gefunden habe, findet sich in dem Werk Rheinschwäbisch  von Ludwig Eichrodt (Mundart der Karlsruher Gegend). Doch auch das Schwäbische und Schweizerdeutsche Wörterbuch melden Belege aus dem 19. Jahrhundert. Als Herkunft wird in den meisten Dialektwörterbüchern, wenn auch bisweilen fragend, das französische «citoyen» angesehen, eine Deutung, die vieles für sich hat und der auch ich zustimme, solange noch keine bessere gefunden werden kann.»

Wie aber ist die Bedeutungsentwicklung von «Bürger» zu «durchtriebenem, frechem, nichstnutzigen Kerl» zu erklären“, fragt sich auch der deutsche Sprachwissenschaftler. Auch er vermutet, dass das Wort «citoyen» in Frankreich im Zusammenhang mit der französischen Revolution eine Rolle gespielt hat.

«Nachdem der Adel und die verschiedenen Stände abgeschafft waren, war der einzige Titel, der dem freien und gleichen Franzosen zustand, der «citoyen» und er galt überall als Anrede. Das selbstbewusste und anmassende Gebaren dieser «citoyens», das bald in eine Schreckensherrschaft führte, muss von den Deutschen, die in den Kontakt mit den französischen Revolutionären und Revolutionstruppen kamen, doch etwas befremdlich wahrgenommen worden sein. Gut möglich, dass das französische Wort «citoyen» daher im deutschen Sprachraum zu «Sidian» umgeformt wurde.

Susan Osterwalder-Brändle, stgallen24-Kolumnistin